Was für ein Ansturm auf die letzten Vorstellungen der Ära Castorf an der Volksbühne! Innerhalb weniger Minuten waren die beiden letzten Premieren „Ein schwaches Herz“ von Frank Castorf und „Dark Star“ von René Pollesch ausverkauft, die aber beide nicht zu den besten Arbeiten dieser Regisseure zählen. Auch bei den zahlreichen Dernieren der Repertoire-Klassiker von Marthaler oder Fritsch musste man schnell zugreifen, wenn man nicht leer ausgehen wollte.
Ein besonderer Moment in diesem Juni war die letzte Vorstellung von „Keiner findet sich schön“: Fabian Hinrichs hatte bei den stehenden Ovationen des Publikums mit den Tränen zu kämpfen und brachte nur ein paar letzte Abschiedsworte heraus. Es war nicht ganz klar, ob er sich mit belegter Stimme von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verabschiedete oder dem Theater überhaupt Adieu sagte und nur noch im Film zu erleben sein wird.
Der Abschiedsschmerz von Hinrichs gab auch dem gesamten „Keiner findet sich schön“-Abend eine ganz andere Aura: als Pollesch und Hinrichs das Stück im Sommer 2015 zur Uraufführung brachten, erlebte ich sie als selbstironische, augenzwinkernde Performance eines hervorragenden Schauspielers, der über das Beziehungsleben des modernen Großstädters zwischen Tinder-Matches, Pizza-Services und Pop-Konzerten philosophierte. Zwei Jahre später hatte Hinrichs mit vielen Texthängern zu kämpfen und er sprach seinen Text mit so viel Wehmut, dass die Grundstimmung wesentlich düsterer war und es nur wenige Momente zum Schmunzeln.
Dass auch René Pollesch solche hervorragenden Stücke wie „Keiner findet sich schön“ oder „Kill your Darlings“ nicht am Fließband gelingen, wurde bei der letzten Aufführung seines Films „Niagara“ deutlich: ein Starensemble um Martin Wuttke und Sandra Hüller stand qualmend in Bert Neumanns Bühnenraum-Vermächtnis und langweilte die Zuschauer mit Banalitäten.
Zum Start in die letzte Woche erinnerte die Volksbühne an einen Künstler, der viel zu früh starb und dessen kluge, anarchisch-provozierende Interventionen schmerzlich vermisst werden. Christoph Schlingensief gründete im Frühjahr 1998 seine Partei „Chance 2000“, die im Alphatier-Duell Kohl gegen Schröder lustige und nachdenkliche Akzente setzte. Aus dem Archivmaterial montierten Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich die Dokumentation „Abschied von Deutschland. Chance 2000“. Der Film verzichtet völlig auf historische Einordnung oder Off-Kommentare, sondern lässt die Archivaufnahmen, die recht chronologisch aneinander montiert wurden, für sich sprechen.
Der wortgewaltige Jürgen Kuttner lud zu seinem letzten Videoschnipsel-Abend am Rosa-Luxemburg-Platz ein, wird die Tradition aber ab September am Deutschen Theater fortsetzen, wo er seit mehreren Jahren regelmäßig vor allem in den Kammerspielen inszeniert. Von ihm war eine Abrechnung mit dem Senat zu erwarten, die ich leider wegen der Vorbereitungen zur kurzfristig angesetzten, historischen „Ehe für alle“-Entscheidung im Bundestag und der Jahrhundert-Sintflut über Berlin verpasst habe.
Auch das Straßenfest auf dem Rosa Luxemburg-Platz nach der allerletzten „Baumeister Solness“-Aufführung litt unter dem kühlen und regnerischen Wetter. Das hinderte Kultursenator Klaus Lederer aber nicht, gemeinsam mit Gorki-Intendantin Shermin Langhoff und dem Trio Martin Wuttke, Milan Peschel und Alexander Scheer die Rio Reiser-Hymne „Für immer und dich“ auf Frank Castorf. Nach dem Ostrock-Refrain „Hier brennt der Wald im Abendrot“ und einem gestammelten „Ich liebe euch“ des scheidenden Hausherrn endete eine Ära am Sonntag, 2. Juli, mit preußischer Ordnungsamts-Pünktlichkeit um 1 Uhr nachts.
Bild: David Baltzer