Emocracy

Wie oft hat man sich diese Möglichkeit schon gewünscht? Einfach aufstehen und sich demonstrativ die Ohren zuhalten: schon springt die große Digitaluhr um und der Performer hat zwei Sekunden weniger Redezeit. Fairerweise gibt es auch die Chance, mit Faust zu sagen „Oh Augenblick, verweile doch, Du bist so schön“. In dem Fall muss man einfach nur aufstehen und schon bekommt der Schauspieler zwei kostbare Sekunden als Zugabe geschenkt.

Wie erfrischend könnte plötzlich die nächste Plenardebatte im Bundestag werden. Wenn ein Hinterbänkler mal wieder nur das vorbereitete Manuskript ohne jeden Esprit abliest, könnte seine Uhr sehr schnell ablaufen. Wenn sich Gysi und Schäuble lustige Rededuelle liefern, dürften es gerne ein paar Minuten mehr sein. Und wenn die Tiraden der AfD gar zu unerträglich werden, könnten Grüne und Linke ein wirksames Zeichen setzen.

Oder man stelle sich die nächste Castorf-Premiere vor: Seine Anhänger von der Volksbühne könnten dafür sorgen, dass Valery Tscheplanowa und Jürgen Holtz noch viel mehr Zeit für ihre Monologe bekommen und dass die Vorstellung auch im Morgengrauen noch längst nicht vorbei ist. Seine Gegner könnten gegen besonders mäandernde Passagen protestieren, in denen einzelne Sätze schier endlos wiederholt werden, und sie einfach abkürzen, wenn sie die Mehrheit bekommen. Da wäre einiges geboten im Publikum und die sechs Stunden, die ein Castorf-Abend im Schnitt das Sitzfleisch strapaziert, würden durch die kleine sportliche Betätigung viel kurzweiliger. Der Kreislauf käme auch in Schwung.

Das „Interrobang“-Kollektiv (Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg) machte aus dieser Idee eine „Emocracy“-Performance in der Kantine der Sophiensäle. Zwei Performer (Talamonti und Bettina Grahs, die zuletzt mit Hans-Werner Kroesinger am HAU in „Heimat Reloaded“ zusammenarbeitete, als Gastschaupielerin) erzählen abwechselnd Geschichten aus dem Alltag: von der Biographie des Großvaters, vom Leben in Gelsenkirchen, vom beängstigenden Gefühl, nach der Dämmerung allein durch den Görlitzer Park zu gehen.

Das Publikum darf sich einmischen, ob ihnen mehr als 2 Minuten eingeräumt werden, ob Kunstnebel oder seichte Klaviermusik zur Untermalung eingesetzt werden. Zwanzig Minuten ist das Konzept ganz amüsant, danach ist die Luft aber schnell raus: die Pointe ist ausgereizt und die Geschichten sind provozierend banal. Dementsprechend stimmte das Publikum nach etwas mehr als einer Stunde mehrheitlich für ein „schnelles Ende“ dieses Abends.

Copyright: Michael Bennett, Fotodesign: Sandra Fox/Florian Mueller-Klug

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