Kafka

Als „phantastische, großformatige Reise zum Planeten Kafka“ wurde Kirill Serebrennikows Gastspiel vom Gogol Center am Deutschen Theater Berlin angekündigt.

Dramaturg Valery Pecheikin griff tief in den Zettelkasten und destillierte aus Kafkas Tagebüchern und Motiven aus seinen Erzählungen und Romanfragmenten eine materialreiche Textfassung für einen mehr als dreistündigen Abend. Im Lauf der Proben entschied man sich, dass der Kafka-Darsteller (Semen Shteinberg) stumm bleiben soll. Wie ein Verlorener steht er mit Anzug und Hut zwischen all den Figuren, die auf ihn einreden und an ihm zerren.

Die erste Hälfte wird zu einem Wimmelbild kurzer Szenen, bei dem Kafka von den üblichen Verdächtigen (seinem Vater, seiner Verlobten Felice Bauer, seinen Vorgesetzten bei der Unfallversicherungsanstalt) mit ihren Ansprüchen und Forderungen konfrontiert wird. Leider stößt hier die Übersetzung an ihre Grenzen: auf der Bühne toben die Dialoge, unterbrochen von etwas Slapstick, Tanzeinlagen und Live-Video. Die Simultandolmetscherin hat den Kraftakt zu bewältigen, die Textmassen zu übersetzen. Aus den verschiedenen Figuren und Klangfarben wird daraus ein einziger langer Wortschwall, der über die Kopfhörer an die Ohren des Publikums dringt, so dass für das nicht-Russisch-sprachige Publikum viel vom Reiz des Originals verloren geht.

Im zweiten Teil nach der Pause tritt das Übersetzungs-Problem in den Hintergrund, da  Serebrennikow hier vor allem auf poetische Bilder für Kafkas Leidensweg durch Krankheiten und Sanatorien bis zum Tod setzt. Der als Revue-Mix aus Tanz, Schauspiel,  Gesang und Live-Video angelegte Abend kommt hier stärker zur Ruhe und gewinnt an Konturen. Bis dahin wirkte auch die Musikauswahl oft zu beliebig: Beethovens „Ode an die Freude“ tritt neben Swing-Klänge der 1920er Jahre, Goethes „Erlkönig“ wird auf Russisch und Deutsch rezitiert. Wie auch André Mumot in seiner insgesamt positiven Radio-Kritik anmerkte, ist bei manchen szenischen und musikalischen Assoziationen der Bezug zu Kafkas Persönlichkeit nur noch schwer auszumachen.

Zum starken Schlussapplaus kam das gesamte Ensemble mit „Free Kirill“-Shirts auf die Bühne. Die russische Justiz verurteilte den Regisseur aufgrund fadenscheinig wirkender Vorwürfe der Anklage zum Hausarrest, so dass Serebrennikows erste Schauspielinszenierung in Deutschland (nach Opernaufführungen in Stuttgart und an der Komischen Oper Berlin) platzte. Die am DT-Berlin für Mai geplante „Decameron“-Premiere musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden, stattdessen präsentiert sich das Moskauer Gogol Center mit zwei Gastspielen und einem Rahmenprogrammen aus Filmen und Diskussionen.

Es ist die bittere Pointe dieses Abends, dass sich Regisseur Serebrennikow zwei Jahre nach der Moskauer Premiere selbst in einer sprichwörtlich kafkaesken Situation wiederfindet, wie sie Kafka-Leser z.B. aus den Schilderungen über Josef K.s albtraumhaften Weg durch das Labyrinth im Fragment „Der Prozess“ kennen.

Bild: Arno Declair

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