Bei Michael Thalheimer denkt man sofort an antike griechische Tragödien, an seine „Orestie“, an seine „Medea“ oder seine „Penthesilea“: Abende von großer, archaischer Wucht.
Als Hausregisseur des Berliner Ensembles wagte er sich nun auf ungewohntes Terrain. In seiner zweiten Inszenierung nach dem recht zwiespältigen „Kaukasischen Kreidekreis“ zum Saisonauftakt wagt er sich an einen zeitgenössischen Klassiker. Thalheimer inszeniert das Südstaaten-Familien-Melodram „Endstation Sehnsucht“, mit dem Tennessee Williams 1948 den Pulitzer-Preis gewann und mit dem Marlon Brando in der Rolle des Stanley Kowalski zunächst am Broadway Triumphe feierte und in der Verfilmung von Elia Kazan (1951) zum Weltstar wurde.
Für die Rolle des rauhbeinigen Stanley Kowalski dürfte auf den Berliner Bühnen kein passenderer Schauspieler zu finden sein als Andreas Döhler, der zum Beginn der Spielzeit vom Deutschen Theater ans Berliner Ensemble wechselte. Seine Spezialität ist es, kantige Typen zu verkörpern, die klare Ansagen machen, viel Testosteron versprühen und trotz allen Machotums weiche Züge durchschimmern lassen. Seine Figuren arbeiten sich oft aus einfachen Verhältnissen hoch, sind keine Sonnyboys, sondern Malocher, die mit dem Scheitern kämpfen.
Am DT spielte Döhler oft Rollen, die mehr Karikaturen dieses Typs waren: er fiel in breiten sächsischen Dialekt, überzeichnete bestimmte Eigenschaften, setzte vor allem auf die Lacher. Den Stanley Kowalski bei Thalheimers „Endstation Sehnsucht“ spielt er mit großer Ernsthaftigkeit und in der richtigen Dosierung.
Da sich Döhler als Stanley zurücknimmt, können zwei andere Hauptdarsteller des Abends strahlen. Zum einen ist hier Olaf Altmanns Bühne zu nennen. Er bildet mit Michael Thalheimer ein eingespieltes Team und gestaltet fast jede Inszenierung mit. Für den Kampf der Familien Dubois und Kowalski, die dem Bedeutungsverlust als verarmte Südstaaten-Oberschicht nachtrauern bzw. mühsam um ihren Platz in einer sich rasant beschleunigenden Industriegesellschaft ringen, baute er eine eindrucksvolle, steil abfallende Bahn, auf der die Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem aufrechten Gang kämpfen und in den dramaturgisch entscheidenden Situationen buchstäblich ins Rutschen kommen.
Vor allem trägt aber Cordelia Wege diesen Abend. Sie wurde als Gast ans Berliner Ensemble engagiert und feierte ein eindrucksvolles Berlin-Comeback: Von 1998 bis 2001 war sie an Castorfs Volksbühne engagiert und reüisserte dort als Nachwuchschauspielerin des Jahres 2000. Bereits damals arbeitete sie eng mit Sebastian Hartmann zusammen, dem sie nach einer Zwischenstation in Hamburg ans Centraltheater Leipzig folgte.
Cordelia Wege glänzt als Blanche Dubois. Sie lässt eine Frau spürbar werden, die den sozialen Abstieg nicht verkraftet, sich an Strohhalme klammert, mehr und mehr den Kontakt zur Realität verliert und schließlich in der Psychiatrie landet. Wege tappt dabei nicht in die Falle, ihre Blanche als hysterische Schreckschraube zu denunzieren, die ihren Mitmenschen nur auf den Wecker geht.
Auch in den weiteren Rollen ist der Abend stark besetzt, z.B. mit Sina Martens, der aktuellen Nachwuchsschauspielerin des Jahres, als Stella Kowalski, die zwischen ihrem Mann Stanley und ihrer Schwester Blanche steht, oder mit Kathrin Wehlisch als Nachbarin Eunice mit langer blonder Perückenmähne.
Thalheimer gelingt auf fremdem Terrain eine sehr solide Theaterarbeit. Mit seiner Routine, einem eindrucksvollen Bühnenbild und seinem starken Ensemble bietet er einen sehenswerten Abend mit einem modernen Klassiker aus dem Jahr 1947.
Bilder: Matthias Horn