Kluge Gefühle

Auf die Zuschauer, die an diesem heißen Sommerabend die steile Treppe ins Kreuzberger Dachgeschoss erklommen haben, wartet ein überraschender Anblick. Das Hebbel am Ufer präsentiert im Rahmen des „Performing Arts Festivals“, einer Art Leistungsschau der Freien Bühnen in Berlin, auf seiner kleinsten Spielstätte HAU3 den TV-Comedy-Star Anke Engelke.

Mit Klunkern und edlem grünem Kleid tritt sie als snobistische Helikoptermutter auf, die ihrer Tochter Vorhaltungen macht, dass sie mit 35 Jahren immer noch nicht den richtigen Mann gefunden hat und ihr auch sonst nichts recht machen kann. Das neurotisch-verkrampfte Mutter-Tochter-Verhältnis könnte auch dem Drehbuch einer Sketch-Serie von Engelke entsprungen sein. Eva Bay gibt die dauer-hibbelige Tochter Tara, die als Anwältin auf Asyl-Fälle spezialisiert ist, im Privatleben und beim Online-Dating aber glücklos bleibt. Die beiden stehen im Zentrum des 90minütigen Abends, in kleineren Rollen sind Ali Kamrani als Taxifahrer, Sarah Masuch als Freundin der Tochter, Christian Steyer als ihr Therapeut sowie Takako Suzuki als Trommlerin und Fragestellerin dabei.

„Kluge Gefühle“ von Maryam Zaree, das 2017 beim Heidelberger Stückemarkt gewann und dort vor wenigen Wochen in der Regie von Isabel Osthues mit gemischten Kritiken uraufgeführt wurde, ist von einem markanten Bruch geprägt:

Die Tochter ist immer noch damit beschäftigt, die schon länger zurückliegenden Nachrichten ihres Chat-Partners zu analysieren und in ihrer Therapiesitzung über die Ursachen für die Funkstille zu grübeln, als sie plötzlich bemerkt, dass ihre Mutter seit einigen Tagen verschwunden ist. Engelke, die sich bis dahin deutlich zurückgehalten hat, kommt zu einem Solo auf die Bühne zurück, das ihrem Image und ihrem Rollentypus völlig widerspricht und der Familienkomödie ein Ende setzt. Vor einem fiktiven Tribunal gegen das iranische Regime in Den Haag sagt die Mutterfigur aus, wie sie im iranischen Gefängnis Evrin gefoltert, gedemütigt und vergewaltigt wurde. Erst aus einem Video-Mitschnitt erfährt die Tochter, dass sie im Knast zur Welt kam. Das Verdrängte bricht sich Bahn.

Der Abend, der auf der Dachgeschoss-Bühne komplett auf Requisiten verzichtet, bleibt sehr statisch. Der Schauspieler Niels Bormann war in den vergangenen Jahren vor allem in den Stückentwicklungen von Yael Ronen zu erleben und dort für den „comic relief“ bei ernsten Themen zuständig. Bei seinem Regie-Debüt wurde er von der Autorin und Schauspieler-Kollegin Maryam Zaree als Dramaturgin unterstützt, agiert aber mit deutlich spürbarer angezogener Handbremse.

Die entscheidenden Kippmomente funktionieren nicht, die beiden Ebenen stehen zu unverbunden nebeneinander: Hier die Mutter-Tochter-Komödie, bei der die beiden Schauspielerinnen der Verlockung widerstehen, dem Affen richtig Zucker zu geben, was wohl viele von Engelke erwartet haben. Dort die Schilderung von Folter und Haft, die von Engelke sehr sachlich und realistisch vorgetragen wird. In der Mitte klafft das Loch des Verdrängten. „Kluge Gefühle“ mag als autobiographischer Text interessant gebaut sein, die Umsetzung auf der Bühne stößt an diesem Abend an ihre Grenzen.

Bilder: Dorothea Tuch

One thought on “Kluge Gefühle

  1. Dietrich Rauch Reply

    Ich bin nicht Ihrer Meinung. Für mich war der Theaterabend sehr gelungen und berührend eindrucksvoll.
    Ich war ergriffen von der schneidenden Intensität und dem Spagat, den Zuschauer sehr nachdenklich zu stimmen und ihn gleichzeitig zu amüsieren.
    Die zentralen Figuren waren glaubwürdig und haben mich durch ihre klare konzentrierte Spielweise beeindruckt. Der authentische, schnörkellose und auf wesentliche Zeichen reduzierte Stil war dem Stück angemessen.
    Die Laiendarstellung des Taxifahrers fand ich einen überzeugenden Regieeinfall. Auch dieser Darsteller hat mich überzeugt.

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