Unerbittlich packt der Greifarm die reglosen Körper, einen nach dem anderen. Wie in Einar Schleefs legendärer „Sportstück“-Inszenierung baumeln sie kopfüber am Fangarm des Roboters. Ein brutales, kaum auszuhaltendes Einstiegsbild: Tänzerinnen und Tänzer, die wie Schlachtvieh am Fleischerhaken aufgehängt sind.
Die 60 Minuten „enfant“ sind harte Kost: auf monoton wie bei Ulrich Rasche vor sich hinrollenden Walzen finden die Akteure keinen Halt. Im Zentrum des Abends stehen die Kinder. Sie werden von den Erwachsenen wie Puppen lieblos hochgehievt, von einem zum andern durchgereicht, zu Objekten degradiert.
Zu ohrenbetäubend-sirenenartigen Klängen erwachen die reglosen Kinder zum Leben und laufen einem Rattenfänger mit Dudelsack hinterher: Hektik und Chaos breiten sich aus, bevor der dystoptische Abend abrupt ganz in Schwarz versinkt.
Bereits 2011 wurde dieser Tanzabend zur Eröffnung des renommierten Festivals in Avignon uraufgeführt, ausgerechnet im Papstapalast und ausgerechnet ein Jahr nach dem Höhepunkt der Enthüllungen über den Missbrauch der katholischen Kirche. Der zweite Referenzpunkt dieser Choreographie sind die KZ-Transporte, die vom Scheunenviertel rund um die Volksbühne und von der Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße in die Vernichtungslager führten.
„enfant“ ist ein kurzer, mit mechanischer Wucht unerbittlich abrollender Abend, der in schwer auszuhaltenden, streckenweise auch sehr monotonen Szenen vom Leiden geschundener und missbrauchter Kinder erzählt. Die Arbeit des Haus-Choreographen Boris Charmatz der Volksbühne hinterlässt zwiespältige Eindrücke.
Die Aufführung polarisiert: In Berlin stehende Ovationen, wie man sie am Rosa-Luxemburg-Platz zuletzt in den finalen Tagen der Castorf-Ära erlebte. Von der Deutschland-Premiere bei der Ruhrtriennale in Bochum 2012 berichtete „Die deutsche Bühne“, dass es „Aufhören“-Zwischenrufe und laute Buhs am Ende gab.
Bilder: Gianmarco Bresadola