Lange Nacht der Autoren 2018

Mit drei extrem unterschiedlichen Regiezugriffen und Texten konfrontiert das Deutsche Theater Berlin sein Publikum bei dieser mit sechs Stunden sehr „Langen Nacht der Autoren“, die traditionell den Abschluss des Autorentheatertage-Festivals bilden.

Zum Auftakt erstickte das Geschichts-Aufarbeitungs-Stück „Ihre Version der Geschichte“ in melancholischer Schwere hinter der Glaswand eines Tonstudios in der DT-Box. Simone Kuchers Text kreist um die Sprachlosigkeit einer armenischen Familie, die sich an die historische Wahrheit des Genozids an den Armeniern heranzutasten versucht. Die Musikerin Lusine (Lisa-Katrina Mayer) konfrontiert ihre Mutter (Isabelle Menke) mit bohrenden Nachfragen zum Schicksal des Großvaters. Angestoßen wird ihre Familiengeschichts-Recherche von Begegnungen mit einem geheimnisvollen alten Mann (Ludwig Boettger) und der Bitte von Charles (Ex-DT-Ensemble-Mitglied Matthias Neukirch), dass sie bei einem Gedenkkonzert zum Genozid an den Armeniern, der von der türkischen Regierung geleugnet wird, auftreten soll.

Simone Kuchers ursprünglich als Hörspiel konzipiertes Stück wird in Marco Millings Regie (Assistent am Schauspielhaus Zürich), zu einem Geschichts-Frontal-Unterricht fürs Publikum. Die Figuren bleiben klischeehaft, am schlimmsten ist das bei der wortkargen Mutter, die sich hinter ihrem Schweigen verschanzt. Das 90minütige Stück ist mit Loops und Stroboskop-Gewittern überfrachtet und ächzt unter der bleiernen Schwere des viel zu statischen Zugriffs. „Ihre Version der Geschichte“ ist als zeitgeschichtlich ambitioniertes Lesedrama durchaus interessant, stößt aber bei der Umsetzung auf der Bühne an seine Grenzen. Dokutheater-Spezialist Hans-Werner Kroesinger hat den Genozid an den Armeniern 2015 am Gorki Theater in „Musa Dagh: Tage des Widerstands“ auf gelungenere Art theatralisch verhandelt.

Die Farce „europa flieht nach europa“ von Miroslava Svolikova steuerte das Wiener Burgtheater bei. Die Autorin berauscht sich streckenweise etwas zu sehr an Sprachspielereien und Assoziationskaskaden im Jelinek-Stil, so dass ihre Tableus zur Krise Europas nicht immer klar genug fokussiert sind. Regisseur Franz-Xaver Mayr, der im vergangenen Jahr mit der galligen Groteske „Kartonage“ noch mehr überzeugte, konnte bei der Uraufführung auf das gewohnt starke Burgtheater-Ensemble bauen, aus dem vor allem Dorothee Hartinger in der Rolle der Europa herausragt.

Die als „karneval der wirklichkeit“ überschriebene szenische Collage über einen Kontinent, der mit großen Idealen startete und sichtlich ermüdet ist, hat einige spielerische Glanzmomente und ist eine sehr solide, durchaus sehenswerte Arbeit. Dem Diskurs über den Zustand Europas fügt diese Berliner/Wiener-Koproduktions-Uraufführung am Wochenende vor dem EU-Sondergipfel, bei dem sich Merkel und Kurz als Antipoden gegenüber stehen, wenig Neues und Tiefschürfendes hinzu.

Für den Paukenschlag zum Schluss sorgte Sebastian Hartmann mit „In Stanniolpapier“. Wie von ihm zu erwarten, nutzte er Björn SC Deigners sachlich-realistisches Drama über eine Prostituierte aus einem Alkoholiker-Haushalt als Steinbruch für Wortfetzen, die Linda Pöppel furios als wuchtige Live-Video-Performance aus ihrem von Manuel Harder und Frank Büttner geschundenen Körper herauspresst und dem Publikum entgegenschleudert.

Die Jury distanzierte sich mit scharfen Worten davon, dass sich Hartmann in der von ihm gewohnten Weise so weit von der Vorlage entfernte. Man einigte sich deshalb darauf, dass das Wort „Uraufführung“ im Programmheft durchgestrichen wurde.

In den 100 Minuten zeigt Sebastian Hartmann sein Gespür für rhythmisches, stark verdichtetes, in seiner Drastik provozierendes und herausforderndes Theater. Seine drei letzten Regie-Arbeiten am DT („Berlin Alexanderplatz“, „Gespenster“ und „Ulysses“) waren düstere, meist über mehrere Stunden ausufernde Meditationen, die über weite Strecken deutlich durchhingen. In seiner sehr konzentrierten „In Stanniolpapier“-Fassung setzt Hartmann, der aus Castorfs Volksbühnen-Kosmos hervorging und das Leipziger Pubklikum während seiner Intendanz spaltete, seine bekannten Stilmittel so radikal ein, wie es am DT Berlin von ihm bisher nicht zu erleben war.

Bemerkenswert ist dieses Stück, das auch ins Repertoire des DT übernommen wird, vor allem, weil es in seiner brachial gegen die Wand rennenden Ästhetik Mut und Experimentierfreude beweist und vor wenigen Jahren auf dem Spielplan des DT Berlin nicht vorstellbar gewesen wäre. Es ist ein spannender Prozess mit offenem Ausgang, wie Intendant Ulrich Khuon und sein neuer Chefdramaturg Claus Caesaer unterschiedliche Facetten der wesentlich exzentrischeren Volksbühnen-Ästhetik (mit der Verpflichtung von Jürgen Kuttner, René Pollesch, Sophie Rois und dieser bisher radikalsten Arbeit von Sebastian Hartmann am Haus) in den Spielplan und die gediegene, wohlsituierte Atmosphäre des Deutschen Theaters Berlin einspeisen.

Bilder: Arno Declair (Vorschaubild aus „In Stanniolpapier) und Reinhard Wenger/Burgtheater (Bild aus „europa flieht nach europa“)

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