Exodos

Zum 25jährigen Jubiläum ihrer Compagnie verlangt Sasha Waltz ihren Tänzerinnen und Tänzern und ihrem Publikum einiges ab. Als sich das Ensemble nach knapp drei Stunden keuchend und schweißtriefend in der Mitte der hochsommerlich aufgeheizten ehemaligen Industriehalle Radialsystem V zum Schlussapplaus versammelt, lässt sich als Fazit festhalten: Die Anstrengung hat sich gelohnt.

Sehr ruhig begann der Abend: die Tänzerinnen und Tänzer sind in Museums-Vitrinen ausgestellt. Gegenseitig befreien sie sich aus den Glaskästen, wechseln die Positionen, schreiten gravitätisch durch das Publikum, das sich frei im Raum bewegen kann.

Den ersten Teil von „Exodos“ könnte man mit dem Motto „Laokoon trifft Borderline-Prozession“ überschreiben. In einer bewussten Überforderung des Publikums wird in allen Ecken der Halle gleichzeitig gespielt. Hier lässt eine Performerin ein kleines Skelett vor den Augen einer Zuschauerin baumeln, dort schnürt sich ein Tänzer in einer Selbstfesselung mit einem meterlangen Seil selbst ein und wälzt sich bei seinen letztlich erfolgreichen Selbstbefreiungsversuchen am Boden.

Vor allem aber bilden sich immer wieder Grüppchen aus Tänzern und Zuschauern, die sich zu laokoonartigen Knäueln verdichten: andere Tänzer und Zuschauer müssen durch die Lücken hindurchkriechen. Aus der hin und herwogenden Masse kristallisiert sich schließlich eine klarere Ordnung heraus. Im Zentrum bildet sich ein menschlicher Schutzwall. Die Verbindung aus Tänzern und Publikums-Mitspielern wird zu einer „Festung Europa“, die auf der Flucht (so eine der vielen Bedeutungsebenen des griechischen Worts „Exodos“) kaum noch zu überwinden ist.

Das Publikum wird langsam an die Sitzbänke und Stehplätze am Bühnenrand zurückgedrängt, der „Exodoos“-Exzess ist aber noch längst nicht am Ende, sondern nimmt erst richtig Fahrt auf. Die Tänzerinnen und Tänzer finden sich zu immer neuen Miniaturen zusammen. „Zuviel des Guten“ stöhnte die rbb-Kritikerin. Sicher: ein roter Faden ist nicht mehr zu erkennen. Die Bilder und Anspielungen, die Sasha Waltz und ihre Gäste abfeuern, sind kaum noch zu dechiffrieren. Der Abend wird zur Tour de Force für Protagonisten und Zuschauer. Aber gerade der überbordende Ideenreichtum von „Exodos“ macht den besonderen Reiz dieses Abends aus, der deutlich eindrucksvoller als das wesentlich statischere, kürzere „Kreatur“-Projekt im vergangenen Jahr ist.

Zu „No Fascism“ und „Anarchy“-Rufen toben die Performer durch die Industriehalle. Die Besucher der koproduzierenden Ruhrtriennale dürfen sich im September darauf freuen, dass diese Arbeit im noch gewaltigeren Ambiente der hoffentlich kühleren Bochumer Jahrhunderthalle zu erleben sein wird, die gut zum ausufernden Charakter dieses Abends passt.

Erst gegen Ende kommt das Publikum ins Spiel: das Ensemble zelebriert zu Audio-Mitschnitten aus dem Berghain (vorher waren schon Polizeisirenen, Straßenlärm und viele andere Soundschnipsel zu hören) eine Party, zu der sie auch die Zuschauer. Denn „Ausgehen im Nachtleben“ gehört auch zu den vielen Bedeutungsebenen des Begriffs „Exodos“, die Sasha Waltz an diesem facettenreich schillernden, schwer zusammenzufassenden Abend durchdekliniert.

Bilder: Carolin Saage

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