Kindeswohl

Zu elegischen Streicher- und Pianoklängen erleben wir, wie sich eine Frau langsam wandelt. Anfangs funktioniert Fiona Maye, Londoner Familienrichterin, wie ein Uhrwerk: Ihre Fragen bei den Anhörungen sind präzise, kein Wort zu viel. Ihr Metier ist das kühle, leidenschaftslose Abwägen aller Argumente. Am Ende steht ein klar strukturiertes und schlüssig begründetes Urteil. Die Abende und Wochenenden verbringt sie am Schreibtisch. Ihr Mann beklagt sich, dass sie ihre Ehe schon seit Jahren verlassen habe und gar nicht mehr präsent sei.

Die harte Schale bricht auf, als sie mit dem Fall des 17jährigen Adam konfrontiert wird, der an Leukämie erkrankt ist. Die Ärzte sehen eine Bluttransfusion als letzten Ausweg. Die Eltern stemmen sich jedoch dagegen, da es ihr Glaube als Zeugen Jehovas verbietet. Im Gerichtssaal fliegen die Argumente wie Ping-Pong-Bälle hin und her. Richterin Maye entscheidet, dass sie mit dem Jungen selbst sprechen und erfahren möchte, ob er alle Aspekte genau durchdacht hat und aus fester Überzeugung dabei bleibt, die Transfusion zu verweigern und sein Leben zu riskieren.

In der Schlüsselszene des Films lernt die Richterin einen aufgeweckten Schönling kennen, der sie mit seiner Mischung aus Tiefgründigkeit, jugendlicher Unschuld und Melancholie berührt. Gemeinsam singen sie zur Gitarren-Begleitung die Vertonung eines Yeats-Gedichts. Im melodramatischen Schlussdrittel sind beide hin- und hergerissen zwischen großen Gefühlen. Er ist ihr dankbar, dass sie in ihrem Urteil die Transfusion gegen den Willen der Eltern angeordnet hat. Nach seiner Genesung blüht er mit neuer Lebensfreude auf, distanziert sich von seinen Eltern und ihrem Glauben und beginnt, der Richterin hinterher zu reisen. Sie steckt gerade mitten in einer Ehekrise, weiß nicht, wie sie damit umgehen soll, dass ihr Mann nach einer kurzen Affäre zu ihr zurückkehren will, und ist erst recht davon überfordert, dass so viele ungewohnt-intensive Gefühle durch die Teflonschicht, die sie bisher abschirmte, auf sie einprasseln.

Drehbuchautor Ian McEwan (nach seinem gleichnamigen Roman) und Regisseur Richard Eyre erzählen diese Geschichte äußerst rührselig. „Kindeswohl“ ist ein Melodram, das alle manipulativen Register des Genres zieht, aber am Ende doch nicht mehr als solides Handwerk liefert. Der Film ist ganz auf seine Hauptdarstellerin Emma Thompson als Richterin Maye zugeschnitten. In Großaufnahme durchlebt und durchleidet sie alle Stationen ihres Wandlungsprozesses bis zum Tiefpunkt, einem Klavier-Konzert, das sie überwältigt von ihren inneren Gefühlsstürmen abbrechen muss. Ihre beiden wichtigsten Sidekicks sind Stanley Tucci (als ihr frustrierter Ehemann Jack) und Fionn Whitehead (in seinem zweiten großen Kinofilm als leukämiekranker Adam).

Knapp ein Jahr nach der Weltpremiere in Toronto startete „Kindeswohl“ am 30. August 2018 in den deutschen Kinos.

Bilder: © 2018 Concorde Filmverleih GmbH

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