König Lear

Im schlecht sitzenden Anzug von der Stange schleppt sich ein alter Mann an der Bühnenwand entlang: die Haare zerzaust, die Mundwinkel hängend, die Körpersprache matt und abgekämpft. Edgar Selges „Lear“ hat so gar nichts Königliches mehr an sich. Er ist ein alter Mann, der spürt, dass er den Anschluss verloren hat und nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Jähzornig ist dieser Lear nicht. Wenn er mal aufbrausend wird, ist das nur noch ein letztes, zaghaftes Aufbäumen. Aber sichtlich besorgt ist dieser Lear. Vermutlich wäre er sehr empfänglich für die populistischen Parolen der AfD, die das angeknackste Ego älterer Männer streicheln.

Vor allem ist Lear empfänglich für die Schmeicheleien seiner beiden älteren Töchter. Carlo Ljubek (Goneril) und Samuel Weiss (Regan) liefern sich einen witzigen Gesangs-Wettstreit, wer die schöneren Songs schmettern kann und höher in der Gunst des abgehalfterten Vaters steht, dessen Erbe bekanntlich verteilt werden soll. Die beiden Töchter treten als Drag-Prinzessinnen auf, vor allem Carlo Ljubek spielt in schön schlangenhafter Lauerstellung.

Die Bühne von Johannes Schütz ist bis auf spärliche Requisiten (eine Landkarte zum Verteilen der Beute, ein Klavier für Livemusik, ein Tisch mit Stuhl) fast komplett leergeräumt. Wie bei Jürgen Gosch sind auch in Karin Beiers Shakespeare-Inszenierung alle Spieler*innen beinahe während der gesamten drei Stunden mit auf der Bühne oder in der ersten Reihe neben der Souffleuse und verfolgen das Geschehen mit.

Von dem Starensemble um Edgar Selge in der Titelrolle, Ernst Stötzner als Gloucester (der zweite alte, abservierte, getäuschte Mann in diesem Stück) und Lina Beckmann, die sowohl die jüngste Tochter Cordelia als auch den Hofnarren von Lear spielt, ist das ein oder andere Kabinettstücken zu sehen: In unnachahmlicher Lina Beckmann-Art stakst sie als Narr mit Akkordeon durch weite Strecken des Abends, fährt zu Beginn und am Ende als Cordelia zärtlich mit ihrer Bürste durch das schüttere und im Lauf des Abends noch zerzaustere Haar ihres Vaters. Edgar Selge hält ergriffene Verzweiflungs-Monologe, Ernst Stötzner wird in einem poetischen Moment von seinem Sohn Edgar (Jan-Peter Kampwirth) über die Bühne bis zu den Klippen von Dover geführt, nachdem ihm die Feinde seine Augen ausgestochen haben.

Karin Beier fehlt zur Eröffnung ihres frisch renovierten Hauses jedoch eine überzeugende Regie-Idee, wie sie die berühmte Shakespeare-Tragödie auf die Bühne bringen kann. Sie hält sich eng an die Dramaturgie der fünf Akte, die Sprache (Übersetzung: Rainer Iwersen) ist behutsam aktualisiert.

Erst in der halben Stunde nach der Pause setzt die regieführende Intendantin des Hauses stärker eigene Akzente. Selges Lear, der seinen Anzug mittlerweile gegen den weißen Kittel eines Klinik-Patienten getauscht hat und schließlich nur noch in Unterwäsche steht, findet sich in einer tänzerisch interessant choreographierten Andeutung der Entscheidungsschlacht wieder. Als bis auf Edgar und Kent alle Protagonist*innen zu Boden getaumelt sind und Lear seine letzten Worte vom „Nie wieder“ hingehaucht hat, lässt Beier ihren Edgar (Kampwirth) noch einen Monolog sprechen, der voller Buzzwords aktueller Leitartikel um Heimat, Flucht und Asyl kreist. An der Rampe wäscht Kent (Matti Krause) die Leiche von Lear, während Edgar ihn umkreist und die Zuhörer*innen seines Monologs zum Tanzen auffordert.

Dieser Schluss wirkt wie ein Nachklapp ohne sinnvolle Anbindung an den restlichen Abend, der eine solide Klassikerbearbeitung war, ohne dass das hochkarätige Ensemble wie erhofft auftrumpfen konnte.

Bilder: Matthias Horn

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