Christopher Rüping sprengt mit seinem Antiken-Projekt „Dionysos Stadt“ jeden Rahmen. Dem Münchner Abo-Publikum wollte selbst Frank Castorf, der wahrlich nicht dafür bekannt ist, dass er sein Publikum mit Samthandschuhen anfasst, bei seinen Gastspielen am Residenztheater nicht mehr als vier Stunden zumuten. (Normalerweise ist man bei Castorf dann erst seit kurzem aus der Pause zurück und hat noch einige Improvisationen und Schreiduelle vor sich).
Auf der gegenüberliegenden Seite der Maximilianstraße kündigte Rüping im Oktober zur Spielzeiteröffnung einen 10stündigen Marathon, der dann zwar doch „schon“ nach 9,5 Stunden endete, aber seitdem für ein (fast und auch bis zum Ende) volles Haus und stehende Ovationen sorgt.
„Dionysos Stadt“ ist eine große Wundertüte. Zu allererst ist es eine ironische Verbeugung vor dem antiken Theater. Wie uns Nils Kahnwald als Conferencier des Abends in Jeans und Pulli erklärt, orientiert sich auch dieser lange Theatertag an der Grundstruktur der dionysischen Festspiele: er besteht aus drei Tragödien und einem Satyrspiel, allerdings ohne die obligatorische Abstimmung über den Sieger des dramatischen Agons, wie es bei den alten Griechen üblich war. Zu gewinnen gibt es trotzdem etwas, nämlich 50 € für eine Zuschauerin/einen Zuschauer jeder Vorstellung.
Vor allem ist „Dionysos Stadt“ aber ein wilder Mix verschiedener Formen. „Dionysos Stadt“ ist ein Abend, der seinem Publikum ständig zuruft: „Ich bin etwas Besonderes, ich muss zum Theatertreffen.“In der von Rüping gewohnten Spiel- und Inszenierlust trifft hier von heftigem Wummern unterlegtes Videoflimmern auf ganz stille Momente. Eine glänzend gespielte Farce, die Telenovela-Genremuster parodiert, dreht im dritten Akt die gesamte Atriden-Trilogie respektlos und äußerst komisch durch den Reißwolf: der Höhepunkt dieses Marathons. Scheinbar unmotiviertes Rumkicken mündet in einen langen, melancholischen Schlussmonolog über Zinedine Zidane, eine tragische Figur des Weltfußballs, der sich im WM-Finale 2006 zu einem Kopfstoß provozieren ließ, mit Roter Karte vom Platz gestellt wurde und die Niederlage seines Teams von außen mitansehen musste. Eine Nackt-Performance á la Lars Eidinger steht neben kitschig-versonnenem gemeinsamen Blick in den Sonnenuntergang.
Diese außergewöhnliche Arbeit scheut sich auch nicht vor Längen und bedient sich auch gerne bei der Kleinkunst: der Gag, dass Zuschauer am Bühnenrand mitqualmen dürfen, war schon bei Rainald Grebe zum Abwinken. Als Kopie wird er nicht lustiger, sondern sorgt nur für Gestank im Haus.
Den Zuschauer*innen wird – getreu dem mehrfach zitierten antiken Motto „Tun – Leiden – Lernen“ – auch sonst einiges abverlangt. Wie sehr wünscht man sich da ins Dionysos-Theater am Fuß der Akropolis: die steilen Ränge des klassischen Amphitheaters garantieren den Luxus der Beinfreiheit und gute Sicht ohne Verrenkungen von allen Plätzen, wenn vorne die Spieler*innen als (ziemlich alberne) Schafherde durch die Prometheus-Szene des ersten Aktes blöken. Auch die kulinarische Auswahl in den Pausen war bei den antiken Dionysien sicher weniger spartanisch: wer nicht vorab ein teures Menü reservieren wollte oder selbst etwas mitgebracht hatte, durfte sich in der Winterkälte in der langen Schlange vor einem Truck einreihen, der zwei Falafel-Sorten im Angebot hatte.
Der ungewöhnliche, sein Publikum herausfordernde Theater-Tag brachte Regisseur Chistopher Rüping seine zweite Einladung zum Theatertreffen im Mai 2019.
Bilder: Julian Baumann