Dieser Kraftakt nötigt höchsten Respekt ab: Mit 86 Jahren stemmt Jürgen Holtz eine Titelrolle. Noch dazu nicht bei irgendeinem Regisseur, sondern bei Frank Castorf, der für seine ausufernden, kraftraubenden Exzesse bekannt ist und auch diesmal wieder erst nach sechs statt der angekündigten fünf Stunden pünktlich um Mitternacht endet.
Es wäre fast übermenschlich, wenn seine Konzentration nach den ersten zwei Stunden nicht merklich schwinden würde und er bei seinen langen Monologen (von und nach Brecht) nicht häufiger die Hilfe der Souffleuse brauchen würde. In den drei Stunden nach der Pause kommt Holtz nur noch selten auf die Bühne. Castorf gönnte Holtz eine Auszeit, die auch wesentlich jüngere Spieler nach solchen Strapazen nötig hätten.
Viele sind wohl vor allem deshalb ins Berliner Ensemble gekommen, um Holtz und seine Präsenz, die den ersten beiden Stunden ihren Stempel aufdrücken, noch einmal zu erleben.
Was bleibt von diesem Castorf-Abend sonst noch in Erinnerung? Sicher die hysterische Spielwut von Stefanie Reinsperger und Sina Martens, die sich die Seele aus dem Leib brüllen, Rotz und Wasser heulen, sich am Boden wälzen, „Naturkaviar“ alias Theater-Kot in sich reinstopfen und sich die eitrigen Pestbeulen aufstechen. Ganz in der Tradition des guten, alten Volksbühnen-Stils, der 25 Jahre am Rosa-Luxemburg-Platz gepflegt wurde.
Natürlich auch die langen Fremdtext-Passagen aus Antonin Artauds „Das Theater und die Pest“, die Castorf in Brechts Lehrstück einpflanzt. Nach der Pause stürzen sich Jeanne Balibar und Andreas Döhler in die assoziativen Ausführungen Artauds, die auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper wirken. Dramaturg Frank Raddatz erklärt im Programmheft, worum es Castorf ging, als er den auf Trance-Zustände und Rausch abzielenden Theaterbegriff der Grausamkeit des Franzosen Artaud mit dem auf Rationalität, Aufklärung und politische Agitation setzenden epischen Theater seines deutschen Zeitgenossen Bertolt Brecht kontrastierte. Als Link zwischen den beiden so gegensätzlichen Denkern fungieren die bereits erwähnten Pestbeulen, die in Brechts „Galileo Galilei“ ein Symptom der im voraufklärerischen Aberglauben verhafteten Gesellschaft sind, und ein Text des in Castorf-Inszenierungen fast schon obligatorischen Heiner Müller, der unmittelbar vor der Pause eingesprochen wird.
Ansonsten bleibt festzuhalten, dass sich spätestens nach drei Stunden ein lähmendes Gefühl einstellt: viel zu oft haben wir diese Castorf-Abende bereits gesehen, die vom Hölzchen aufs Stöckchen springen und schier kein Ende nehmen, denen nach solidem Beginn aber nach und nach die Luft ausgeht. Die stinkenden Nikotinschwaden zeigen, wie tief dieses Theater noch in den 90er Jahren verhaftet ist, als es zur stilprägenden Avantgarde wurde. Selbstironisch greift Jeanne Balibar, Castorfs Lebensgefährtin, diesen Vorwurf eines altbackenen, z.B. angesichts von #metoo aus der Zeit gefallenen Theaters auf, als sie gemeinsam mit Sina Martens vergeblich einzuhaken versucht, während die beiden Kollegen Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann ihre Mansplaining-Runden drehen, die den Abend noch weiter in die Länge ziehen.
Ein Castorf-Abend ist noch lange nicht zuende, auch wenn der Volksbühnen-Veteran auf der linken Seite zum gefühlt fünften Mal in den letzten zwanzig Minuten auf die Uhr schaut. Kenner wissen, ein Castorf-Abend ist frühestens dann zuende, wenn die Nachbarin auf der rechten Seite nach dem gefühlt 365. Husten-Anfall ein ermattetes „Nee, nee“ hervorröchelt und noch tiefer in ihrem Stuhl versinkt, weil Rocco Mylord noch mal zu einem längeren Monolog anzusetzen scheint, aber dann doch ein Einsehen hat und unvermittelt abbricht.
Bilder: Matthias Horn
Stefan Bütow
Wieder ein starker Beitrag!