Systemsprenger

Nach dem Eröffnungsfilm-Flop „The Kindness of Strangers“ startete die Berlinale mit einem packenden Drama in den zweiten Festival-Tag.

Nora Fingscheidt kannten bis zu ihrer Einladung in den Wettbewerb um die Bären nur wenige Insider, sie ist aber eine echte Entdeckung. Ein erster Hinweis, dass sich „Systemsprenger“ lohnen konnte, waren die mehrfachen Auszeichnungen für ihr Drehbuch, das sie noch im Rahmen ihres Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg erarbeitet hat.

Im Zentrum ihres Spielfilmdebüts steht ein beängstigendes Albtraum-Kind, das Erzieher*innen und Jugendamt an ihre Grenzen treibt. Im wahren Leben möchte man einer derart tickenden Zeitbombe am liebsten nie begegnen und auf keinen Fall mehr als fünf Minuten mit ihr im selben Raum verbringen.

Helena Zengel spielt die neunjährige Bernadette, die alle nur Benni nennen, hervorragend. Mehr als ein Jahr lang wurde sie von Regisseurin Nora Fingscheidt auf die schwierige Rolle vorbereitet, die ein häufiges Umschalten zwischen burschikosen Momenten und unvermittelt hereinbrechenden Gewaltausbrüchen voller Tourette-artiger Schimpfwort-Kanonaden erfordert. Eine besondere Leistung von Hauptdarstellerin Zengel und ihrer Regisseurin ist, dass dieses Horror-Kind für kurze Augenblicke Anflüge von Sympathie beim Kinopublikum wecken kann.

Aber auch der restliche Cast ist hervorragend: Albrecht Schuch glänzt als Sozialarbeiter und Schulbegleiter Micha Heller, der dem Mädchen die richtige Mischung aus robuster Boxer-Härte und Schulter zum Anlehnen bietet. Heller wird zum Prototyp eines Helfers, dessen Grenzen aufweichen, der sich zu sehr emotional involvieren lässt und damit mehr Teil des Problems als Teil der Lösung ist.

In zentralen Nebenrollen erleben wir drei prominente Spielerinnen des Hamburger Thalia-Ensembles: Gabriela Maria Schmeide strahlt wie immer patent-mütterliche Herzlichkeit aus und versucht als Frau Bafané, immer wieder alle beteiligten Institutionen an einen Tisch zu bekommen und die nächste Chance für Benni nach einem Gewaltausbruch oder Eklat zu ermöglichen. Victoria Trautmannsdorf hat einen Kurzauftritt als Pflegemutter Silvia. Besonders hervorzuheben ist noch Lisa Hagmeister, die Bennis Mutter Bianca Klaas spielt: eine überforderte Frau, die sich in prekären Verhältnissen abstrampelt, ständig an die falschen Männer gerät und noch zwei weitere Kinder zu versorgen hat. Sie wirft deshalb entnervt das Handtuch und bricht ihr Versprechen an Benni, sie baldmöglichst wieder zu sich zu holen. Damit erlischt auch einer der letzten Hoffnungsschimmer des Mädchens, das mit seiner unkontrollierbaren Energie eine Gefahr für sich und andere darstellt: ein „Systemsprenger“, wie es im Fachjargon von Jugendamt und Psychologen heißt.

Nach ihrer beim Max Ophüls-Festival 2017 ausgezeichneten Dokumentation „Ohne diese Welt“ konnte Nora Findscheidt ihren ersten Spielfilm als Koproduktion mit der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ realisieren: In der ersten halben Stunde erinnert „Systemsprenger“ noch an die üblichen Genre-Muster dieses mitternächtlichen TV-Formats, weist aber anschließend deutlich darüber hinaus und ist ein würdiger Beitrag im Wettbewerb eines A-Film-Festivals.

Der verdiente Lohn für diesen starken Film ist der Alfred Bauer-Preis, der neue Perspektiven in der Filmkunst mit einem Silbernen Bären würdigt.

„Systemsprenger“ war auch der große Abräumer bei der Deutschen Filmpreis-Gala 2020 mit der Goldenen Lola für den besten Film und sieben weiteren Lolas (für die beiden Hauptdarsteller Helene Zengel und Albrecht Schuch, für Regie und Drehbuch von Nora Fingscheidt, für Gabriela Maria Schmeide als beste Nebendarstellerin sowie für den besten Schnitt und die beste Tongestaltung).

Bild 1: © Peter Hartwig / kineo / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer , Bild 2: © kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer


One thought on “Systemsprenger

  1. Ma Reply

    Es ist wohl nicht „die besondere Leistung“ der Regisseurin, dass das Kind „Anflüge von Sympathie“ weckt, sondern es ist genau die Dramatik, die die Regisseurin hervorheben möchte.
    Schade, dass Sie im Artikel die Bezeichnung „Horror-Kind“ benutzen! Es geht doch im Film eben darum, zu zeigen, dass die Kinder eben nicht Horror sind, sondern ebenso liebenswerte und liebenswürdige Kinder wie alle anderen Kinder auch!

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