Die beiden hinterlassen einen Scherbenhaufen: Er, Alceste (Ulrich Matthes), dem jede Form der Heuchelei ein Dorn im Auge ist, der genug hat von all den Speichelleckern und Hofschranzen in ihrer Oberflächlichkeit und Manieriertheit. Er stößt alle vor den Kopf, ohne Rücksicht auf Verluste und wird zu einem hasserfüllten Soziopathen, der unfähig ist, in menschlicher Gemeinschaft zu leben und deshalb einfach aussteigen will. Aber auch Sie, Célimène (Franziska Machens), steht am Ende nicht als Siegerin da. Sie ist sich ihrer Attraktivität bewusst, genießt die Flirtversuche der Männer, lässt sie im Glauben, dass sie eine Chance bei ihr haben könnten, lässt sie zappeln. Als ihre Briefe auftauchen, in denen sie sich über die Tollpatschigkeit und Niveaulosigkeit ihrer Verehrer lustig macht und mit denen sie einen gegen den anderen ausspielt, sitzt auch sie zwischen allen Stühlen.
Als sich Molière diese Figuren ausdachte und die Hauptrolle selbst auf den Leib schrieb, hatte er offenkundig den Hofstaat des absolutistischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. vor Augen, dessen „Vergnügungsdirektor“ er war. Der Plot bietet zwar wenig Handlung, aber um so mehr Dialoge, die Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens für ihre Kölner Inszenierung 1983 behutsam übersetzten und dabei die Versform des Originals beibehielten.
Die Karikaturen dieser Hofschranzen und Wichtiguer sind auch Jahrhunderte später noch gutes Schauspielerfutter. Jeremy Mockridge (Acaste) und Elias Arens (Clitandre) als hyperaktives Nebenbuhler-Duo, Judith Hofmann als nur auf den ersten Blick prüde, sittenstrenge Arsinoé und vor allem Timo Weisschnur, der in seiner Rolle des Oronte schon seit Wochen in lustigen Instagram-Storys aufging und den tumben Schönling als aufgeblasenen, von sich eingenommenen Gecken spielt, haben komödiantisches Talent und sorgen für unterhaltsame Momente.
Ein schöner Einfall ist Florian Lösches Bühnenbild aus Seilen, zwischen denen sich die Spieler*innen immer wieder aus dem schwarzen Hintergrund nach vorne hindurchlavieren müssen und die oft auch zu kleinen akrobatischen Einladungen genutzt werden. Insgesamt bleibt Anne Lenks „Menschenfeind“-Inszenierung aber sehr statisch und wird so konventionell vom Blatt gespielt, als ob sich in den vergangenen Jahrzehnten im Theater gar nichts getan hätte
Es wird nicht klar, wo die Regisseurin und ihr Team mit diesem Abend hinwollen. „Der Menschenfeind“ bietet nette Unterhaltung für das Abo-Publikum und die Kanzlerin, die sich mittlerweile innerlich schon so weit von ihrem Amt gelöst hat, dass sie mitten im Brexit-Chaos die Muße hat, eine Theater-Premiere zu besuchen.
Die Frage, die Alceste aufwirft, wie die Regeln des öffentlichen Diskurses ausbuchstabiert werden sollten, dass ein zivilisiertes Miteinander möglich wird, kommt an diesem Theaterabend zu kurz. Anne Lenk lässt den Text aus dem 17. Jahrhundert nur nachspielen, macht aber nicht den Versuch, ihn darauf abzuklopfen, was er uns für die Gegenwart mit ihrer Verrohung der Gesprächskultur im Netz zu sagen hat.
Update: Die Inszenierung wurde dennoch zum Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen.
Bild: Arno Declair