Wie von der spanischen Performerin Angélica Liddell gewohnt, ist auch ihr neues Stück „The Scarlett Letter“ ein ebenso assoziativer wie radikaler Abend. Sie bedient sich sehr frei bei Motiven des gleichnamigen Romans von Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1850 über eine Ehebrecherin, die in ihrer puritanischen Gesellschaft ausgegrenzt wird und ein rotes „A“ auf der Brust tragen muss. Dieses „A“ prangt an diesem Abend auch auf Liddells Kostüm. Sie umkreist den Buchstaben in ihren eingestreuten Monologen. Er steht nicht nur für „Adultery“, sondern auch für „Artist“, „Angel“ oder „Angélica“.
Als Aufschrei gegen Prüderie ist dieser Abend angelegt. Das gesellschaftliche Klima wird vergiftet, gesellschaftliche Freiräume werden zugemauert. Wen sie dafür als Hauptschuldige ausmacht, ist überraschend: In den umstrittensten Passagen des polarisierenden, knapp zwei Stunden kurzen Abends rechnet sie mit den „Männerhasserinnen“ ab. Frustrierte Frauen über 40 sind ihr Haupt-Angriffsziel. Als radikale Vorkämpferin gegen „Metoo“ fordert sie, dass Frauen in eine dienende Rolle zurückkehren und den Männern die Füße küssen sollen. Dafür wird sie aus guten Gründen sicher keine Mehrheiten bekommen.
Trotz aller Polemik ist „The Scarlett Letter“, das als Deutschland-Premiere bei den Maifestspielen in Wiesbaden zu sehen war, ein zum Nachdenken über Prüderie und Freiräume anregender, bildstarker Abend, bei der Liddell als Zeremonienmeisterin und Matriarchin eine nackte Männer-Gruppe dirigiert. In den stillen Momenten jenseits ihrer Pamphlete spielt sie mit Ritualen des Katholizismus, steckt ihre Mitstreiter in Kutten, die sowohl an Mönche als auch auf den Ku-Klux-Klan anspielen und lässt sie Aufgaben absolvieren.
Eine typische Liddell-Idee ist es, Foucault-Texte aus den 1970ern mit der Sommerhit-Eintagsfliege „Dragostea din tei“ (2004) zu kontrastieren. Diese Szene steht symptomatisch für ihren assoziativen Stil, unterschiedlichste Einflüsse zu mixen und den Geschmack des Publikums zu provozieren.
Bilder: Bruno Simao