Hamlet

Der Abend hat einige Anlaufschwierigkeiten. Minutenlang kippen Katja Bürkle, Wolfgang Hess und Nils Kahnwald Eimer voller Kunstblut auf den Gitterrost am Boden der Münchner Kammer 2. Die Vorräte, die sie sich von der Bühnenwand holen scheinen, so unerschöpflich, dass selbst Michael Thalheimer neidisch werden könnte, der „Othello“ und „Macbeth“ am Berliner Ensemble schier in Kunstblut ertrinken ließ.

Auch danach geht der „Hamlet“ noch sehr zäh weiter. Christopher Rüping und seine drei Spieler*innen haben den Shakespeare-Klassiker zerpflückt, einzelne Sätze aus dem Kontext gerissen und knallen sie am Publikum und den Mitspieler*innen vorbei auf die leere Bühne. Einen solchen Bühnen-Albtraum hat Joachim Meyerhoff wohl im Kopf gehabt, als er kürzlich in seinem Wiener Burgtheater-Abschieds-Interview seufzte: „Viel zu viel Theater sieht nach Pflichterfüllung aus.“

Als der Abend in ödem Konzepttheater zu versanden droht, dreht sich das Blatt völlig. Nils Kahnwald streift sein Ophelia-Kleidchen ab, zieht sich den Hamlet-Hoodie über und pumpt in Sekunden endlich Energie in diese bis dahin leblose Veranstaltung. Er macht Vater und Mutter (gespielt von Walter Hess und Katja Bürkle) zur Schnecke, demütigt sie mit seinen Anweisungen und schikaniert sie mit einer Eiseskälte wie in „Funny Games“. Es ist keine gute Idee, jetzt aufzustehen und zu gehen: Nils Kahnwald verfolgt zwei Zuschauer, die das Weite suchen wollten, mit seinem Scheinwerfer bis zur Tür.

Ebenso beeindruckend ist der Auftritt von Katja Bürkle als Gefühlsterroristin. Nun ist sie es, die den Dänenprinz Hamlet mit dem Kapuzenpullover spielt. Sie feuert Kanonaden voller Verachtung auf die bedauernswerte Ophelia (Nils Kahnwald wieder im Kleid) ab. Als narzisstischer Ober-Macho filettiert Bürkles Hamlet die völlig verschüchterte, keinen Ton mehr herausbekommende Ophelia: Sie sei völlig unwürdig und könne neben seiner Großartigkeit nicht bestehen. Verächtlich spuckt Bürkle mit Schaum vorm Mund ein „Geh doch ins Kloster!“ aus.

Diese beiden Szenen sind das Herzstück des Abends: Hamlet, der oft als „Zauderer“ interpretiert wird, ist in dieser Lesart ein Amokläufer im Gefühlschaos, der seine Mitmenschen mit irrem Blick fertig macht.

Im restlichen Verlauf des Abends schütten sich die drei Spieler*innen noch mehrfach weitere Liter voller Kunstblut über Kopf und Kostüm, freestylen zum berühmten „Sein oder Nichtsein“-Monolog und bekommen schließlich den verdienten Applaus, bevor sie das Schlachtfeld von Helsingör den bedauernswerten Mitarbeiter*innen hinterlassen, die die Kammer 2 für die nächste Vorstellung wieder besenrein machen müssen.

Bilder: Thomas Aurin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert