Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ wird aus guten Gründen nur mit spitzen Fingern angefasst: Sie trieft vor Begriffen wie „Negertruppen“, die heute aus guten Gründen als rassistisch verpönt sind, und erzählt eine recht seichte Romeo und Julia-Lovestory vor dem Hintergrund des Befreiungskampfs von Sklaverei und Kolonialismus in Haiti.
Der Text aus dem Jahr 1811 muss entweder in der Mottenkiste bleiben oder fordert zum Widerspruch heraus. Necati Öziri entschied sich für Letzteres. Er formulierte eine Überschreibung, die sich ganz ausdrücklich „gegen Kleist“ wendet.
Lange Textblöcke, die frontal ins Publikum gesprochen werden und ihm einiges abverlangen, da anzunehmen ist, dass kaum jemand von Kleists Original, das hier als Folie mitgedacht werden muss, mehr als eine kurze Zusammenfassung kennt. Auch für die Spieler*innen, denen der Souffleur mehrfach helfen muss, ist der Stücktext eine Herausforderung.
Für die Uraufführung des Stücktextes, eine Koproduktion des Schauspielhauses Zürich noch unter der gerade beendeten Intendanz von Barbara Frey und des Berliner Gorki Theaters, war Gorki-Hausregisseur Sebastian Nübling eine sehr gute Wahl. Er unternimmt viel, um den zweistündigen, pausenlosen Abend aufzulockern. Live-Video, sehr gelungene Scherenschnitt-Passagen und vor allem immer wieder kleine Tanz-Choreographien sind in die Inszenierung eingebaut.
In seinen besten Momenten blitzt kurz eine besondere Energie auf, spielt sich das Ensemble frei. Aber zu oft muss dazwischen eine Unmenge an Text abgearbeitet werden, die eine*r spricht, während die anderen um sie/ihn tänzeln und die Live-Musik von Lars Wittershagen ohrwurmverdächtig oft die selben Akkordfolgen perlen lässt.
Sehr eindeutig ist die Lehre, auf die der Abend zusteuert: Kenda Hmeidan, die wie Maryam Abu Khaleed aus dem Exil-Ensemble hervorgegangen ist und einige Passagen auf Arabisch spricht, möchte die Gewaltspirale, in der Kleists Novelle versinkt, durchbrechen. Aber wie sie es dreht und wendet. Sie findet keinen Ausweg, es endet immer mit einem Kopfschuss.
Als utopisches Moment bleibt nur das Verfassungs-Manifest für eine „Schwarze Republik“ gleichberechtigter Bürger*innen, das die Spieler*innen ganz zum Schluss mit leuchtenden Voodoo-Masken vor dem Gesicht verlesen.
Die Problematik des Theaterabends ist es, dass der Ansatz von Öziris Replik auf Kleist als literatur-/kulturwissenschaftlicher Aufsatz oder Kongress-Beitrag sehr gut funktionieren könnte, als Theaterabend aber trotz Sebastian Nüblings Ideen an seine Grenzen stößt.
Bei der Überschreibung des Plots einer Schmonzette aus dem 19. Jahrhundert hallt zu wenig nach.
Bild: Esra Rotthoff