Der Berliner Wohnungsmarkt hat sich bekanntlich rasant verändert. In den ersten beiden Szenen ihres Musicals „Stadt unter Einfluss“ wirft Christiane Roesinger zwei kurze Schlaglichter: Zunächst auf die Situation in den 90er Jahren, die noch bis weit nach der Jahrtausenwende recht stabil blieb. Berlin bot mit seinen niedrigen Mieten viele Freiräume für ein entspanntes Bohème-Leben bot. Dann setzte die „Betongold“-Rausch-Stimmung von Spekulanten und Maklern ein, als die Preise um ein Vielfaches in die Höhe schossen. Tausende Mieter*innen wurden in „Entmietungswellen“ schikaniert und unter Druck gesetzt.
Noch vor nicht langer Zeit hatte man die freie Auswahl zwischen schönen Gründerzeit-und Altbauwohnungen in bester Lage zu bezahlbaren Preisen. Heute muss man die Ansprüche deutlich herunterschrauben. In einem der Songs hetzt der Chor aus professionellen Sänger*innen und Mieter-Aktivist*innen vergeblich durch die Berliner Randbezirke auf der Suche nach einer passenden Wohnung. Wir wollen doch einfach nur wohnen, stöhnen sie.
Schon 2018 thematisierte das HAU die Probleme von Gentrifizierung und Entmietung im „Oratorium“ von She She Pop. Annette Gröschners Text über ihre Erfahrungen im Prenzlauer Berg waren das Herzstück eines Abends, der zwar zum Theatertreffen eingeladen war, aber zu viele Facetten der wachsenden sozialen Ungleichheit zu unfokussiert bearbeiten wollte.
Zum Spielzeitauftakt widmet das HAU den Mieter*innenprotesten nun ein ganzes Festival und landete mit dem Auftragswerk „Stadt unter Einfluss“ einen Volltreffer. Christiane Roesinger erarbeitete mit Andreas Spechtl, weiteren Musiker*innen und Initiativen aus Kreuzberg und Neukölln einen Abend, der es schafft, die brisanten Probleme ebenso ernsthaft wie unterhaltsam zu beschreiben.
Leicht hätte der Versuch, sich dem aktuellen Thema mit Laiendarsteller*innen zu widmen, als bemühtes Agitprop-Theater schiefgehen können. Aber Christiane Roesinger gelingt es, die Balance zu wahren. „Stadt unter Einfluss“ argumentiert in seiner Kritik messerscharf und mit dem nötigen Biss. Meist in wunderbar unterhaltsamen Songs, die ironisch auf Schlager von Helene Fischer bis Matthias Reim oder die Arbeiterkampf-Liedertradition und Brechts Lehrstücke anspielen. Die authentischen kurzen Erfahrungsberichten einzelner Aktivist*innen sind in die Musical-Handlung geschickt eingebunden und sind deshalb zwar eindringlich, aber nie plakativ mit dem Holzhammer.
In seiner aufklärerischen Mission und in seiner Wut über die Zustände verliert „Stadt unter Einfluss“ glücklicherweise nie die nötige Selbstironie und Reflexion. Der Abend adressiert seine Botschaft sehr klar, adressieren, driftet aber nie in verbissenes Eiferertum ab. Er informiert nicht nur, sondern unterhält auch glänzend.
Das Musical reflektiert die Verzweiflung und das Gefühl des Alleingelassenseins. Chorisch stehen sich die beiden prototypischen Reaktionen der betroffenen Mieter*innen gegenüber: „Man kann eh nichts tun“ versus „Lasst es uns gemeinsam anpacken“. Welche Position am Ende die Oberhand behält, ist absehbar, aber dramaturgisch schlüssig aufgebaut.
„Stadt unter Einfluss – das Musical zur Wohnungsfrage“ ist deshalb politisches Volkstheater im besten Sinne – aus und für Kreuzberg. Zurecht wurde die Premiere mit häufigem Szenenapplaus begleitet und zum Schluss mit langem Beifall bedacht.
Bilder: Dorothea Tuch