Diamante

In fünfeinhalb langen Stunden erzählt der Argentinier Mariano Pensotti vom Niedergang der fiktiven lateinamerikanischen Stadt Diamante: als Retortensiedlung wurde sie von einem Konzern am Rand des Dschungels aus dem Boden gestampft.

Mit kleinen Hockern bewaffnet spaziert das Publikum durch das freigeräumte Parkett des Hauses der Berliner Festspiele und sitzt dicht gedrängt vor elf kleinen Häuschen. Markante Stationen sind z.B. eine Bar, das Kampagnenbüro der Gouverneurskandidatin oder das Probenzentrum von Theatergruppen und Jugendbands.

Das Publikum kann die Reihenfolge der szenischen Schnipsel in jeder der drei von längeren Pausen unterbrochenen Runden völlig frei wählen. In kurzen Sequenzen, die die bedauernswerten Spieler*innen im ständigen Loop für jedes Grüppchen bis zu elf Mal wiederholen müssen, fällt ein kleines Schlaglicht auf das Leben in Diamante.

Kolportagehaft erzählt Pensotti vom Niedergang einer Stadt, in der sich alles nur um Geld, Macht und Intrigen dreht. Der Abend folgt mit seinen schnellen Schnitten und Parallelhandlungen zwar dem Erfolgsprinzip der Serien, bleibt aber an der Oberfläche. Die Figuren bekommen kaum Konturen, kommen kaum über Pappkameraden und Thesenträger hinaus, wie z.B. die erfolgreiche Managerin, die zur Stripperin und Putzfrau absteigt. „Diamante“ wirkt so, als ob Simon Stone „Borgen“ und „House of Cards“ überschrieben und auf seine gewohnte Art trivialisiert hätte.

Mariano Pensotti / Grupo Marea: „Diamante“

Enttäuschend ist an „Diamante“ vor allem, dass sich kein immersiver Sog einstellt. Die Inszenierung wurde als Teil der „Immersion“-Reihe der Berliner Festspiele koproduziert, fast die gesamte Handlung spielt sich jedoch hinter Glaswänden ab, die das Publikum noch zusätzlich neben den papiernen Figuren auf Distanz halten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Inszenierung ihre These vom dystopischen Niedergang mehr behauptet als spielerisch entwickelt. Das Publikum ist vor allem damit beschäftigt, die deutschen Übertitel mitzulesen: Manchmal sind das einfach nur die Übersetzungen der spanischen Dialoge von den vier Stammkräften aus Pensottis Grupo Manea. Meist sind es aber ellenlange Erklärungen zu den Motiven der handelnden Figuren, zu den Verästelungen des Plots und sehr oft soziologische Diskurse. Bei diesem Parcours durch „Diamante“ wird quasi der komplette Text, der sonst im begleitenden Programmheft stehen würde, zum Bestandteil der Inszenierung und an die Hauswände projiziert. Wer die Texte nicht lesen möchte und sich ganz oft die meist recht blassen Spielszenen und banalen Alltagsdialoge verlässt, verpasst die wesentlichen Schnittstellen des Puzzles.

Bis auf die kurzen Massenszenen am Ende jedes Abschnitts (einer Jubiläumsfeier, einer Kundgebung der linken Protestpartei, die den Konzerninteressen Paroli bieten möchte sowie schließlich der feierlichen Umwidmung der Siedlung zum Disney-Themenpark), bei denen sich Publikum und Spieler*innen mischen, ist dieser Abend statt des erhofften immersiven Erlebnisses vor allem anstrengendes Spruchbänder-Mitlese-Theater mit ständigem Stühlerücken von Station zu Station. Die plakative Botschaft wird frontal und phasenweise zu sehr im Stil einer Telenovela vermittelt statt spielerisch entfaltet.

Bilder: Annette Hauschild

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