Kanon

Ihre Begeisterung ist deutlich zu spüren: Berit Stumpf, Performerin in den Kollektiven She She Pop und Gob Squad, dirigiert ihre Mitspieler*innen vom Publikum aus. Ihr Ziel ist ein Re-Enactment der berühmten Performance „The Biography“ von Marina Abramovic, die sie 1993 im Frankfurter TaT gesehen hat.

Diese Aufführung hat sie so sehr geflasht, dass sie zur Initialzündung für She She Pop wurde: Stumpf tat sich mit einigen Kommilitoninnen in Gießen zusammen und gründete eine Gruppe, die mittlerweile fest etabliert ist und zum 25. Bühnenjubiläum auch ihre zweite Theatertreffen-Einladung feiern konnte.

„Kanon“ ist ein Blick zurück: nostalgisch, sich selbst vergewissernd, mit einer großen Portion Ironie. Wie wurden She She Pop und das „postdramatische Theater“ zu dem, was sie sind?

Als Revue aus kleinen Erinnerungssplittern erzählen sich die She She Pop-Veteraninnen, ihr Quotenmann und wechselnde Gäste von ihren prägenden Erfahrungen. Constanza Macras hat mit ihnen zum Beispiel eine kurze Hommage an „The Second Detail“ (1991) von William Forsythe aus seiner Zeit als Frankfurter Ballettdirektor einstudiert, die sie damals als junge Studentinnen begeistert hat.

In den besten Momenten des Abends schwärmen die Protagonist*innen sehr authentisch von Meilensteinen der Performance-Kunst und ihren prägendsten Seherlebnissen, z.B. gleich zum Einstieg, als die Bühne noch dunkel ist und Lisa Lucassen eindrucksvoll beschreibt, wie hingerissen sie 1999 von „The Show must go on“ von Jérôme Bel im Schauspielhaus Hamburg war.

Diese Szenen sind es, die den neuen Abend „Kanon“ sehenswert machen, den She She Pop passend zum 20jährigen Jubiläum des Standardwerks „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann für ein Festival im HAU entwickelten.

Der Abend stellt sich allerdings selbst ein Bein: Vermutlich um nicht in die Falle zu tappen, in kitschiger Nostalgie zu versinken, übergießen die Performer*innen ihre Erinnerungen mit Ironie-Soße und fallen dabei ins andere Extrem. Die bewusst dilettantisch gestalteten Re-Enactments eines Klassikers, den eine*r von ihnen herbeizitiert, geraten manchmal zu albern. Alle tragen die Konterfeis berühmter Vorbilder wie Joseph Beuys, Valie Export oder Yoko Ono auf den Kostümen, die Lea Søvsø gestaltet hat.

Dennoch bekommen sie immer wieder die Kurve und schaffen es, ihr Anliegen zu erreichen: Dieser „Kanon“ ist ein unterhaltsamer Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte und ein aufschlussreicher Abend über Theatergeschichte, der mich oft auch neidisch macht, dass ich die als Referenzwerke zitierten Inszenierungen nicht live erleben konnte.

Da sowohl das She She Pop-Kollektiv als auch ihre Gäste jeden Abend in anderer Besetzung auftreten, sind logischerweise bei jeder Vorstellung auch ganz unterschiedliche, stets sehr subjektive Erinnerungen der Performer*innen zu erleben. Das gelingt offensichtlich mal mehr, mal weniger gut.

Nach der Premiere überwogen die enttäuschten Stimmen. Christian Rakow (Nachtkritik) und Janis El-Bira (Berliner Zeitung) beschreiben einen Abend, der vieles nur anzitiere und im Plauderton recht beliebig im Familienalbum blättere. Vielleicht haben sie einfach nur eine schwächere „Kanon“-Ausgabe erwischt. Bei der dritten Vorstellung wurde trotz der genannten Schwächen deutlich, was das postdramatische Theater im Kern ausmacht und welche Arbeiten stilprägend waren.

Bilder: Dorothea Tuch

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