Berlinale Special 2020

Mit drei Innovationen starteten die neuen Berlinale-Chefs Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian im Jubiläumsjahr der 70. Berlinale in ihr Amt: sie führten einen neuen Wettbewerb „Encounters“ für innovative, experimentellere Filme ein, trennten die Sektion „Berlinale Specials“ schärfer vom Wettbewerb um die Goldenen Bären, als es zu Dieter Kosslicks Zeiten üblich war und bespielten wichtige Kultur-Institutionen der Stadt bereits in der Woche vor dem Festival-Start mit hochkarätigen Kooperationen.

Dazu zählen beispielsweise die von Alexander Kluge konzipierte Ausstellung „Das Theater der Kinos“ an der Volksbühne, ein Konzert der Hollywood-Filmmusik-Legende Danny Elfman in der Philharmonie oder ein Gespräch zum Thema „Wozu Filmfestivals?“ in der Akademie der Künste.

Numera/Numbers von Oleg Sentsov (Ukraine)

Zu diesen Kooperationen gehört auch die Premiere von „Numera/Numbers“, einer Polit-Parabel des ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov am Gorki Theater zwei Tage vor der Eröffnung.

Als Carlo Chatrian auf seine Intendanten-Kollegin Shermin Langhoff im Sommer 2019 zuging und ihr diese Zusammenarbeit vorschlug, saß Sentsov noch in russischer Haft. 2014 war der Maidan-Aktivist, der 2012 mit seinem Debüt in Rotterdam aufgefallen war, wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten auf der Krim verhaftet worden. Künstler*innen und NGOs wie amnesty international engagierten sich seit Jahren für seine Freilassung. Gemeinsam mit dem Gorki Theater, das sich seit Jahren damit profiliert, Dissidenten und kritischen Publizisten wie Can Dündar aus der Türkei eine Plattform zu bieten und Solidaritätsaktionen zu organisieren, wollte die Berlinale ein politisches Zeichen setzen. Schon 2017 lief ein Film über den (Schau)-Prozess gegen Sentsov im Special-Programm der Berlinale.

Bild: © 435 Films, Apple Film Production, Česká Televize, ITI Neovision, Ministry of Culture of Ukraine

Im Herbst trat ein, womit damals im Sommer kaum jemand gerechnet hätte: Sentsov wurde im Rahmen eines – in seinen Details umstrittenen – russisch-ukrainischen Gefangenenaustauschs freigelassen und konnte bei der Premiere seines Films dabei sein.

„Numbers“ basiert auf einem Theaterstück, das Sentsov bereits 2011 geschrieben hat. Ähnlich wie Kirill Serebrennikow dirigierte er die Verfilmung des Stücks vom Gefängnis aus: Briefe und Bilder gingen zwischen ihm und seinem Team hin und her.

Im Vorspann macht Regisseur Sentsov klar, was sein Publikum erwartet: ein politisches Manifest. Bei „Numbers“ steht die Botschaft im Mittelpunkt, der Film ist dramaturgisch recht schlicht und ihm ist deutlich anzumerken, dass es sich um ein mit einfachsten Mitteln und auf engstem Raum nachgestelltes Theaterstück handelt.

Die Themen von Sentsovs Film sind das Duckmäusertum und der Untertanengeist, auf die sich Diktaturen und autokratische Systeme stützen. Die namenlosen Figuren sind von 1-11 durchnummeriert und verbringen ihre Tage damit, einem streng ritualisierten Ablauf aus unsinnigen Regeln und Normen zu folgen. Während es sich die „Große Null“ oben in Bademantel und Unterwäsche bequem macht, quälen sich seine Versuchskaninchen durch Slapstick-artige, wie der Regisseur erklärte vom Biathlon inspirierte Spielchen.

Der Film porträtiert typisches Verhalten in Diktaturen wie Anpassung, gegenseitiges Bespitzeln, Verrat und kulminiert in der erfolgreichen Revolution, die jedoch sofort in ein noch schlimmeres, totalitäres Regime umschlägt.

„Numbers“ ist ein typischer Film für die Sektion „Berlinale Special“: Künstlerisch ist das Werk nicht stark genug für den Wettbewerb um die Bären. Aber Oleg Sentsov verkörpert durch seine Biographie den politischen Widerstandsgeist wie wenige andere Künstler, so dass man ihm und seinen Botschaften ein prominentes Forum bieten wollte.

My Salinger Year“ von Philippe Falardeau (Kanada/Irland)

Mit dem sympathischen Feel-good-Movie „My Salinger Year“ wurde das Festival eröffnet. Der Franko-Kanadier Philippe Falardeau verfilmte den autobiographischen Roman „My Salinger Year“ der New Yorker Schriftstellerin Joanna Rakoff.


1996 bewarb sie sich 23jährige Absolventin frisch von der Uni bei einer alteingesessenen Literatur-Agentur, die von Chefin Margaret mit strenger Hand und einigen altmodischen Marotten geführt wurde. Joanas, die eigentlich von einer Karriere als Schriftstellerin träumte, muss sich dort mit klassischen Sekretärinnen-Arbeiten abfinden: sie tippt die Tonband-Diktate ihrer Chefin ab und hat sich um die Fanpost von James D. Salinger zu kümmern, dessen Roman „Der Fänger im Roggen“ zum Kultbuch wurde.
Für die Bearbeitung der Fanpost gibt es jedoch sehr strenge Vorgaben: Ab den 60er Jahren lebte Salinger sehr zurückgezogen in New Hampshire. Die wechselnden Assistenten der Agentur hatten die Briefe, in denen oft viel Herzblut streckte, mit ein paar kühlen Floskeln abzubügeln.


In der ersten Stunde gelingt es dem Regisseur Falardeau, der in Deutschland noch nicht so bekannt ist, aber 2011 an Carlo Chatrians früherer Wirkungsstätte Locarno bereits mit dem Piazza Grande Award für „Monsieur Lazhar“ ausgezeichnet wurde, ein präzises, satirisch-augenzwinkerndes Porträt des Kulturbetriebs zu zeichnen: Sigourney Weaver spielt die Agentur-Chefin Margaret, die sich gegen die heraufziehende Digitalisierung stemmt, mit gewohnter Grandezza. Ihr Co-Star ist Margaret Qualley als Joana bei den ersten Gehversuchen in der Literaturbranche. Zu den einfallsreichen und witzigen Momenten dieses Filmes gehören Die Kopfkino-Dialoge zwischen Joana und den Salinger-Groupies. Sie träumt sich mit ihrem schlechten Gewissen in pointierte Wortgefechte hinein, in denen sie sich dafür rechtfertigen muss, dass sie die Briefe einfach so abwimmelt.

Der Film entwickelt sich von der Betriebs-Satire mehr und mehr zum Coming-of-Age-Film. Etwas zu sentimental und schlicht folgt Falardeau in der letzten halben Stunde einer selbstbewusster werdenden Frau, die sich erstens von der dominanten Chefin löst und statt der angebotenen Karriere-Optionen lieber ihre eigenen Träume verfolgt und zweitens ihrem Freund Don (Douglas Booth), einem Schönling und Möchtegern-Schriftsteller, der im ersten Roman seine erotischen Affären plump beschreibt, den lange fälligen Laufpass gibt.


Für den Wettbewerb um die Goldenen Bären wäre „A Salinger Year“ sicher zu schwach und lief deshalb zurecht außer Konkurrenz. Als Eröffnungsfilm bot er aber solide Unterhaltung und brachte mit „Alien“-Ikone Sigourney Weaver auch Hollywood-Glamour auf den roten Teppich der Eröffnungsgala.

„Sa-nyang-eui-si-gan/Time to Hunt“ von Yoon Sung-hyun (Südkorea)

Dieser Berlinale Special-Film ist pures Blockbuster-Action-Kino und gibt auch gar nicht vor, etwas anderes zu sein. Yoon Sung-hyun choreographierte in seinem zweiten Spielfilm wilde Verfolgungsjagden und Baller-Orgien. Der Plot über eine Gruppe von Klein-Ganoven, die sich mit dem Überfall auf das Casino im Revier der Clans des organisierten Verbrechens vergreifen und von rivalisierenden Gruppen gejagt werden, macht einige all zu kolportagehafte Wendungen.

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Bemerkenswert ist das dystopische Setting in Seoul in naher Zukunft: die Tigerstaaten haben einen Wirtschaftscrash erlitten, in der postkapitalistischen Welt herrschen Tristesse und harte Verteilungskämpfe.

„Paris Calligrammes“ von Ulrike Ottinger

Wenige Tage vor dem Kinostart am 5. März 2020 lief auch Ulrike Ottingers nostalgische Erinnerung an ihre Jugend in der Pariser Kunstszene als Berlinale Special.

1962 kam sie als junge Frau aus dem beschaulichen Konstanz nach Paris und sog die Einflüsse unterschiedlicher Kunstgattungen von Literatur über Malerei bis Kino auf. Die von ZDF und 3sat koproduzierte Erinnerungs-Zeitreise in die 60er Jahre ist gespickt mit Archivmaterial, erschöpft sich aber zu oft in Name-Dropping surrrealer, dadaistischer Künstler, von denen Ottinger als Erzählerin aus dem Off mit authentischer Begeisterung schwärmt.

Der Film endet mit der Ernüchterung nach der Revolte des Mai 1968. Ein Jahr später verließ Ottinger Frankreich und entwickelte sich in der West-Berliner Kunstszene mit ihren poetisch-avantgardistischen Kunstfilmen zu einer wichtigen Protagonistin.

Vorschaubild: Margaret Qualley in „My Salinger Year“, Copyright: micro scope

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