Berlinale Panorama 2020

Auch im Panorama, der Sektion für den engagierten Arthouse-Film, gibt es neue Entwicklungen. Nach dem Abschied von Wieland Speck und einem einmaligen Dreier-Team-Intermezzo hat Michael Stütz nun die alleinige Leitung. Er verschlankte das Programm auf 36 Filme, von denen ich einige vorstelle.

„Exil“ von Visar Morina

In diesem Winter wurde „Exil“ gleich auf zu zwei renommierten Festivals eingeladen: in den internationalen Wettbewerb von Sundance, wo er allerdings leer ausging, und ins Panorama der Berlinale.

Die Hauptfigur Xhaver (Mišel Matičević) quälen Fragen: Warum erreichen ihn wichtige Firmen-Mails nicht? Warum wurde er nicht über die Verlegung des Meetings informiert? Warum muss er so lange auf wichtige Laborergebnisse warten? Nur ein Versehen oder Mobbing?

Da sich diese Vorfälle häufen und Xhaver vor seiner Wohnung tote Ratten findet, wird schnell klar: Der Chemie-Facharbeiter wird systematisch gemobbt. Doch warum? Für ihn ist die Sache klar: Die Kollegen kommen mit seiner Herkunft aus dem Kosovo nicht klar und grenzen ihn aus purem Rassismus aus. Seine Frau Nora ist sich da nicht so sicher. Liegt es nicht vielleicht daran, dass sie ihn schlicht unsympathisch finden und er sich oft wie ein Stinkstiefel benimmt? Sie versucht immer wieder, ihn aufzumuntern, ihn zu beruhigen und Vorfälle sachlich einzuordnen.

Visar Morina beschreibt in seinem sehr spröden, elliptischen und langsam erzählten Film, wie sich die Spirale in Gang setzt: Xhaver verhärtet sich immer mehr und kapselt sich ab. Das Mobbing in der Firma wird noch schlimmer, aber auch das Familienleben leidet darunter.

Als Drahtzieher des Mobbings vermutet Xhaver seinen Kollegen Urs (gespielt von Rainer Bock, abonniert auf zwielichtige Fieslinge im Beamten-Grau). Geschickt hält der Film über lange Zeit in der Schwebe, was hinter dem Mobbing steckt.

Ausgrenzung, Alltags-Rassismus und das Ankommen in der fremden Gesellschaft sind zentrale Themen in Morinas Filmografie, der nach einer Regie-Assistenz an Frank Castorfs Volksbühne zuletzt in „Babai“ (2015) von der Suche eines Jungen aus dem Kosovo nach seinem Vater erzählte.

Die Charakterstudie einer Firmenbelegschaft, die sich in ihrer Haut sichtlich nicht wohl fühlt und ständig stark schwitzt, und eines Mannes, der am Mobbing zerbricht, ist sehr langsam erzählt. Die spröden Szenen werden jedoch regelmäßig von drastischen Schock- und Ekeleffekten, vor allem Ratten-Kadavern in Großaufnahme, kontrastiert.

Für sein Drehbuch wurde Visar Morina bereits 2018 mit einer Goldenen Lola ausgezeichnet.

Kød & Blod (Wildland)“ von Jeanette Nordahl (Dänemark)

Sidse Babet Knudsen, die als Premierministerin Birgitta Nyborg aus der Serie „Borgen“ bekannt wurde, ist die ideale Besetzung für die zweite Hauptrolle im Genre-Thriller „Wildland“. Als Bodil lächelt sie ebenso verbindlich wie als Birgitta. Statt der Vorkämpferin für eine gerechtere Welt verkörpert sie jedoch diesmal die strenge Matriarchin eines Mafia-Clans. Gerne tritt sie mütterlich-zärtlich auf. Wenn es sein muss, geht sie aber über Leichen und lässt Familienangehörige einfach fallen. Sie ist es gewohnt, dass alles auf ihr Kommando hört.

Ihre 17jährige Nichte Ida kommt nach einem tödlichen Autounfall ihrer Mutter bei der Tante unter und wird sofort glänzend integriert. Gemeinsam mit Bodils Söhnen, meist tumben Schlägertypen, die nichts von der Eleganz ihrer Mutter geerbt haben, zieht sie los, um Schutzgelder zu erpressen. Da dies gründlich aus dem Ruder läuft, steht Ida vor der Entscheidung, ob sie Loyalität zum Familienclan wahren oder bei der Polizei auspacken soll.

Der düstere Genre-Film ist ein solides Debüt von Jeanette Nordahl und bietet ansprechende Arthouse-Unterhaltung.

„Si c´etait de l´amour (If it were love)“ von Patric Ciha (Frankreich)

Gleich zwei Dokumentationen porträtieren künstlerische Arbeiten an der Berliner Volksbühne, allerdings aus ganz unterschiedlichen Phasen der traditionsreichen Geschichte des Hauses.

Chris Dercon, dem nur eine Amtszeit von wenigen Monaten beschieden war, lud die Choreographie „Crowd“ von Gisèle Vienne ein, die im Sommer 2018 europaweit über Festivals tourte. Diese Arbeit taucht ins Nachtleben ein und feiert mit Slow-Motion-artigen Bewegungen die Freiheit der Partygäste. Die Choreographie erzählt von der Sehnsucht nach Nähe, vom Eintauchen in der Masse, von der Lust sich zu verlieren und von der Angst, andere an sich heranzulassen.

Sehenswert ist die kleine Dokumentation „Si c’était de l’amour (If It Were Love)“ von Patric Chiha nur, weil sie anhand mitgefilmter Proben wenigstens einen kleinen Eindruck davon liefert, was für einen glanzvollen Tanzabend ich damals im Juni 2018 an der Volksbühne verpasst habe. Die Probenszenen sind wunderbar und sehr präzise gefilmt.

Im Lauf des Films verliert sich Chiha aber mehr und mehr in den Gesprächen hinter den Kulissen: Small-Talk über Flirts und One-Night-Stands vermischen sich mit Gesprächen über die Rollen der Tänzer*innen. Hier wird der Film dann leider banal.

Der Film war der Überraschungssieger bei der Wahl als bester Dokumentar-/Essay-Film der Teddy-Jury.

Die zweite Volksbühnen-Doku ist die Collage „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ aus Archivmaterial, über die ich hier ausführlicher geschrieben habe.

„Mare“ von Andrea Štaka (Schweiz/Kroatien)

Sehr konventionell und allzu schleppend erzählt Andrea Štaka in ihrem neuen Film „Mare“ von einer Frau, die aus einer unglücklichen Ehe ausbrechen will. Wie in den vorherigen Filmen dieser Regisseurin spielt auch hier wieder Marija Skaričić die Hauptrolle. Aufgerieben im Alltag zwischen der kaputten Waschmaschine, dem Kümmern um die Kinder und der Lieblosigkeit ihres Mannes stürzt sie sich in eine Affäre mit Piotr, der neu in das Dorf kommt. Ihr Traum, gemeinsam mit ihm wegzulaufen und aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen, platzt jedoch schnell.

„Kotlovan (The Foundation Pit)“ von Andrey Gryazev (Russland)

Dokumentarische Schlaglichter wirft „Kotlovan“ (internationaler Titel: „The Foundation Pit“) auf die Situation in Russland. Als Intro schnitt Andrey Gryazev Szenen von Baugruben aneinander, in denen es zu Unglücken kommt. Sie stehen als etwas plumpe Metapher für ein Land, das auf schwierigem Untergrund steht und in dem die Verhältnisse ins Rutschen kommen.

Die restlichen knapp 70 Minuten sind eine Collage von YouTube-Botschaften an Wladimir Putin: manchmal unterwürfig-flehend, dass sich der gütige Präsident der geschilderten sozialen Missstände annehmen soll, häufiger aufgewühlt, wütend, voller Kraftausdrücke. Die Schnipsel zeichnen ein Bild von Bürgern einer „gelenkten Demokratie“, die Korruption und Repression satt haben. „Kotlovan“ bietet interessante Eindrücke, bleibt aber in seinem Staccato-Stil an der Oberfläche und wird trotz der kurzen Laufzeit am Ende redundant.

„A l´abordage“ von Guillaume Brac (Frankreich)

Vor phantastischer Urlaubskulisse Südfrankreichs erzählt der Coming-of-Age-Film von Machtspielchen, Stalking und Beziehungs-Problemen in einem Geflecht aus Zufalls-Bekanntschaften. Der Film ist mit Laien und Nachwuchs-Schauspieler*innen besetzt. Überraschend bekam der Film eine lobende Erwähnung der unabhängigen FIPRESCI-Jury der Film-Journalisten.

„Un crimen común“ von Francisco Márquez (Argentinien)

Ein weiterer enttäuschender Film im Panorama war das argentinische Psychodrama „Un crimen comun“.

Im Mittelpunkt steht die Soziologin Cecilia (Elisa Carricajo), die gerade mitten im Auswahlverfahren für eine Professur ist. Eines Nachts hört sie laute Hilferufe vor ihrem Haus. Kevin, der Sohn ihrer Haushaltshilfe, wollte sich vor der Polizeigewalt in Sicherheit bringen, aber sie öffnete ihm nicht.

Cecilia versucht, zur Tagesordnung überzugehen, bereitet den Kindergeburtstag ihres Sohnes in einem Freizeitpark vor, spricht mit Student*innen über ihre Arbeiten und bereitet ihre Präsentation vor.

Als Kevin vermisst gemeldet wird, das Fernsehen über den Fall berichtet und die Mutter immer verzweifelter wird, plagen Cecilia die Gewissenabisse: Stimmen im Kopf quälen sie.

Statt eines intensiven Dramas und der im Programmheft angekündigten „geisterhaft flirrenden“ Atmosphäre kommt „Un crimen común“ von Francisco Márquez nicht über eine recht blasse Psychostudie hinaus.

Bild: © Komplizen Film

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