Auch wenn man das Werk des iranischen Regisseurs Mohamad Rasoulof schon länger verfolgt, ist es immer wieder erstaunlich, mit welcher Schärfe und Direktheit er das Mullah-Regime seit Jahren angreift. Die für das iranische Kino typischen subtilen Andeutungen und die schwer zu entschlüsselnden Parabeln, die viele seiner Kollegen auf Festivals vorstellten, sind nicht seine Sache.
Natürlich passiert schon seit Jahren keiner seiner Filme mehr die Zensur, er darf nicht ausreisen und kann nur heimlich unter schwersten Bedingungen drehen.
Auch in seinem neuen Film „Sheytan vojud nadarad“ (internationaler Titel: „There is no evil“, deutscher Titel: „Es gibt kein Böses“) geht er das Regime in Teheran wieder frontal an und stellt die Todesstrafe gegen Regime-Gegner*innen in den Mittelpunkt seines Films.
Als vierteiliger Episodenfilm ist der mit 2,5 Stunden sehr lange, aber nie langweilige Film angelegt. Jede der Episoden endet unvermittelt mit einer Schwarzblende, bevor die nächste Geschichte ansetzt. Das verbindende Element ist die Todesstrafe und die Frage, was diese brutale Menschenrechtsverletzung mit den Menschen macht, die sie als Handlanger des Regimes ausüben, sich dem widersetzen oder die Angehörige verlieren.
Zu Beginn der ersten Episode schleppt ein Mann einen Leichensack in die Tiefgarage. Ein bekanntes Bild aus vielen Mafia-Filmen. Routiniert verstaut er den Sack, fährt durch die Kurven der Tiefgarage nach draußen und entsorgt die Überreste seiner Arbeit. Dann beginnt der Alltag mit der Familie: die quengelnde Tochter möchte ein Eis, aber ihre Hausaufgaben nicht machen, die Frau ist genervt, dass der Bankangestellte auf lästigen Formalitäten beharrte und die pflegebedürftige Mutter muss auch umsorgt werden. Der ganz normale Stress eines berufstätigen Familienvaters, der jedoch einen alles andere als gewöhnlichen Job hat. Als kleines Rädchen im Getriebe betätigt er den Hebel, wenn die Todesstrafe an den nächsten Delinquenten vollstreckt werden muss. Der Protagonist der ersten Episode, der ganz selbstverständlich zwischen Familienleben und Todestrakt pendelt, verkörpert die von Hannah Arendt beschriebene „Banalität des Bösen“.
Nach dem Cut geht es in einer düsteren Stube junger Wehrpflichtiger weiter: sie sind abkommandiert, abwechselnd Todeskandidaten auf dem letzten Weg begleiten und ihnen den Hocker unter den Füßen wechseln zu müssen. Die zentrale Figur dieses zweiten Teils hat Skrupel, möchte sich freikaufen und die Arbeit an die Kameraden abschieben. Seine Freundin hat offensichtlich Geld, ein Deal wird diskutiert, platzt aber, als ein Rekrut droht, dass er ihn sofort melden wird. Notgedrungen macht sich der Wehrpflichtige mit dem Häftling auf den Weg zur Hinrichtung, spielt einen Schwächeanfall vor und nutzt eine Unaufmerksamkeit zu einer rasant choreographierten, packenden Flucht, die im Auto der Freundin mit der italienischen Partisanen-Widerstands-Hymne „Bella ciao“ endet.
Der dritte und vierte Teil sind melodramatischer: In der nächsten Episode erkennt ein Wehrpflichtiger, der den Sonderurlaub nutzt, der ihm nach der nächsten Hinrichtungsaktion zusteht, um seine Verlobte zu besuchen, dass er gerade einen Freund ihrer Familie ermordet hat.
Zum Schluss besucht eine junge Frau aus Deutschland ihren vermeintlichen Onkel, der sich in die Wüste in eine innere Emigration zurückgezogen hat. Nachdem er sich als junger Soldat geweigert hat, Handlanger der Todesmaschinerie zu sein, waren ihm alle Karrierechancen trotz Medizinstudium verbaut. Todkrank möchte er seiner Tochter nun die Wahrheit beichten.
Dieser vielschichtige, packende Film, der sein Thema konsequent aus mehreren Perspektiven beleuchtet, ist ein Highlight der Berlinale. „Sheytan vojud nadarad“ ist Rasoulofs Debüt auf diesem Festival, seine beiden letzten Filme „Manuscripts don´t burn“ und „A man of integrity“ liefen 2013 und 2017 in der „Un certain regard“-Reihe in Cannes und waren Highlights der jeweiligen „Around the World in 14 films“-Festival-Jahrgänge.
Es ist eine sehr gute Entscheidung der Jury, dass der stärkste Film des Wettbewerbs den Goldenen Bären 2020 gewonnen hat.
Auch bei den unabhängigen Jurys schnitt das iranische Drama sehr gut ab: es gewann neben dem Goldenen Bären noch den Preis der Ökumenischen Jury und den Gilde Filmpreis.
Bilder: © Cosmopol Film