Tenet

In gewöhnlichen Zeiten wäre diese Eröffnungssequenz nicht weiter der Rede wert. Aber in der aktuellen Corona-Pandemie-Ausnahmesituation ist der voll besetzte, ausverkaufte Saal des Nationaltheaters Kiew ein eindrucksvolles Statement. Vor sechs Monaten war so ein Bild noch etwas Alltägliches, heute ist es ein Zustand, nach dem sich Kinobetreiber, Theater-Intendanten und auch viele Zuschauer*innen zurücksehnen.

In einer Zeit, in der strenge Corona-Abstandsregeln dazu führen, dass viele Säle nur zu 20 % besetzt werden dürfen und große Lücken klaffen, baute sich in den Sommermonaten Juli und August eine geradezu messianische Heilserwartung auf. Der Blockbuster „Tenet“ des Ausnahme-Regisseurs Christopher Nolan sollte zum Kassenmagneten werden und das Publikum trotz Maskenpflicht und Aerosol-Risiken zurück in die dunklen Kinohöhlen locken. Mehrmals wurde der Starttermin verschoben, bis das Hollywood-Studio Warner Bros. entschied, den Film in Europa am 26. August zu starten, in den USA, die derzeit wesentlich stärker von Corona betroffen sind, jedoch noch zu warten.

Den Ton des Films gibt die folgende Sequenz vor: mit gewaltigem Wumms, wie James-Bond-Fan Olaf Scholz sagen würde, mäht ein Terrorkommando das Auditorium nieder, nach allen bewährten Regeln des Blockbuster-Baller-Kinos. Am Schauwert des technisch brillanten Spektakels berauscht sich dieser Film auch in den kommenden, deutlich zu langen 2,5 Stunden.

Natürlich wäre der Hype um „Tenet“ nicht so groß, wenn er aus bloßem Action-Krawall bestünde. Der Clou dieser nach Bond-Manier über kamerataugliche Schauplätze weltweit hetzenden Jagd der Geheimdienstmänner (John David Washington und Robert Pattinson) nach dem klischeehaften russischen Oligarchen-Bösewicht (Kenneth Branagh) ist, dass der Gegenspieler aus der Zukunft kommt, die lineare Zeit außer Kraft setzen kann und mit invertierten Waffen operiert.

Aus dieser zentralen Idee inszeniert Nolan ein raffiniertes Verwirrspiel-Ballett aus vor- und zurückgespulten Szenen, ein aus Verfolgungsjagden und Showdowns zusammengesetztes Puzzle, das von viel Bedeutungshuberei durchzogen ist: Schon der Film-Titel spielt nicht nur auf einen ehemaligen CIA-Chef an, sondern ist auch ein Palindrom, also ein Wort, das sich gleichermaßen von vorne nach hinten lesen lässt, einige weitere Palindrome durchziehen den Blockbuster leitmotivisch.

Süffisant-treffend brachte es die NZZ auf den Punkt, womit wir es bei „Tenet“ zu tun haben: mit einem „Bond-Film für Physikstudenten“. Den Nerds werden aber auch die logischen Brüche in diesem Korsett auffallen, die ZEIT Online in der Rezension „Hoppla, wie sich die Zeit verschlingt“ herausarbeitete. Allen anderen empfiehlt deshalb auch der „Perlentaucher“, dass man über über die Logik des Plots nicht allzu lange nachdenken sollte, auch die Figuren kommentieren die Kopfschmerzen verursachende Mindfuck-Konstruktion von „Tenet“ in einigen selbstironischen Dialogen.

Bei aller technischen Brillanz, die „Tenet“ breitbeinig zur Schau stellt und mit einem Oscar für die besten visuellen Effekte prämiert wurde, fällt doch unangenehm auf, bei welch naheliegenden, abgedroschenen Stereotypen des Blockbuster-Kinos wie dem russischen Bösewicht, der bedrohten, blonden Frau (Elizabeth Debicki) und dem Kurzauftritt einer Ikone (Michael Caine) sich Nolan hier bedient.

Bilder: ©2020 Warner Bros. Entertainment, Inc. All Rights Reserved.

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