Eine denkwürdige Zeitreise erwartet das Publikum an diesem Abend im traditionsreichen Varieté-Wintergarten!
Zunächst wirkt alles vertraut, wie wir es aus der „neuen Normalität“ der vergangenen Monate gewohnt sind: Einlass ins Foyer nur mit Maske. Pfeile am Boden dienen als Einbahnstraßen-Leitsystem: in den Saal geht es nur rechts, für den Weg hinaus soll man die linke Seite nutzen. Natürlich muss man im Wintergarten die üblichen Kontaktformulare ausfüllen, damit die Gesundheitsämter die Infektionsketten im Fall des Falles nachverfolgen können.
Doch sobald man den Saal betritt, traut man seinen Augen nicht. Während in den Theatern große Lücken klafften und zahlreiche Stühle abmontiert wurden, sitzen hier wildfremde Menschen an den Tischen eng zusammen. Sicher: zwischen den einzelnen Tischen muss der Abstand von 1,5 m eingehalten werden. Aber es ist angesichts rasant steigender Zahlen doch ein sehr mulmiges Gefühl, dass wir uns im Wintergarten Varieté ohne jeden Sicherheitsabstand und ohne Maskenpflicht gemeinsam am Tisch wiederfinden – ganz so, als ob wir 2019 hätten und nicht mitten in einer Pandemie wären.
Bevor es losgeht, kommt Varieté-Geschäftsführer Georg Strecker gut gelaunt auf die Bühne und erklärt, warum das Publikum im Wintergarten so viel enger platziert ist. Erstens habe man eine High-Tech-Lüftungsanlage, die 100 % Außenluft-Austausch sicherstelle. Und zweitens sei der Wintergarten das größte „Verzehrtheater“ Berlins: da am Platz Speisen und Getränke serviert werden, gelten für das Varieté-Theater die wesentlich laxeren Abstands-Regeln für die Gastronomie.
Während im Deutschen Theater Berlin und im Berliner Ensemble gespentische Lücken klafften und erst nach langen Diskussionen ein Abstand von 1 Meter zwischen Zuschauer*innen aus unterschiedlichen Haushalten genehmigt wurde, sofern die Masken auch während des Stücks getragen werden, sitzt das Wintergarten-Publikum schon wieder fröhlich nebeneinander.
Diese Corona-Regeln verstehe, wer mag. Sie werden sicher nicht zu mehr Akzeptanz beitragen und die zahlreichen Ausnahmeregeln laden zu Gedankenspielen ein: Wird Oliver Reese seinen Anwalt Peter Raue damit beauftragen, eine Schank- und Gastro-Lizenz für Brechts Theater am Schiffbauerdamm zu erstreiten? Werden wir dann zu Frank Castorfs „Fabian“ im vollen Saal ein 6-Gang-Menü serviert bekommen?
Als sich der Vorhang endlich hob, erlebte das Publikum einen klassischen Varieté-Abend auf dem gewohnten Niveau des Hauses: Akrobatik und Jonglage, untermalt von Jazz und Swing der Golden Boys, begleitet von den beiden Conférencières, Nina de Linain und Rodrigue Funke, der zugleich auch Regie führte.
Der Abend versteht sich explizit als Hommage an die 1920er Jahre, huldigt Ikonen wie Anita Berber oder Marlene Dietrich, deren Audio-Archivaufnahmen eingespielt werden. Die Revue zeigt eine große Bandbreite der Varieté-Kunst: vom Schleiertanz der „Diva Tomasz“ über die Prise Erotik in der Cyr Wheel-Show von Oscar Kaufmann oder der Rollschuh-Nummer des Duos Randols, die – wie wir erfahren – vor 17 Jahren im Wintergarten entdeckt und vom Cirque du Soleil engagiert wurden und für diese „Golden Years“-Show in das traditionsreiche Haus in Schöneberg zurückkehren.
Als „Tanz auf dem Vulkan“ werden die Roaring Twenties rückblickend oft verklärt. Volles Risiko gehen der Wintergarten und die Behörden, die das Hygiene-Konzept genehmigten, auch mit dieser Show. Natürlich ist es für den Wintergarten als privates, nicht subventioniertes Theater sehr erfreulich und ökonomisch ein Segen, dass so viele Menschen so dicht nebeneinander platziert werden können. Hoffentlich geht dieses riskante Konzept auch auf und wird nicht vom Virus durchkreuzt.
Update vom 29. Oktober 2022:
Tatsächlich war nur vier Wochen nach der Premiere Ende Oktober 2020 schon wieder Schluss. Die neuen 20er Jahre begannen bekanntlich alles andere als golden. Der zweite Lockdown, der im grauen November begann, dauerte ungleich länger als die erste Schließzeit, erst im Frühsommer 2021 kam neues Leben in die Theater.
Seit Juli 2022 hat der Wintergarten seine „Golden Years No. 2“-Hommage wieder aufgenommen und im dritten Anlauf brummt der Laden endlich wieder. Trotz drohender Energiekrise und Normalität gewordener Corona-Wellen war das traditionsreiche Varieté auch mitten in der Arbeitswoche erfreulich gut besucht. Wege-Leitsysteme sind auch hier längst Geschichte.
Wenn „Diva Tomasz“ den Marlene Dietrich-Klassiker „Sag mir, wo die Blumen sind“ anstimmt, hat das im Herbst 2022 eine traurige Aktualität: die 20er Jahre gingen bekanntlich noch weniger golden weiter, als es vor zwei Jahren in den düsteren Zukunftsszenarien zu erwarten war. Zur Pandemie kommt auch noch Putins Eskalation mit dem Angriff auf Kiew nach einem über viele Jahre eingefrorenen lokalen Krieg im Osten der Ukraine.
Zwischen Pole Dance und Strapaten-Akrobatik wechseln sich die restlichen Nummern ab: auf hohem technischem Niveau, aber nie so lasziv wie bei Anita Berber, die vor einem Jahrhundert mit exzessiven Auftritten im Wintergarten als Femme fatale polarisierte. Seine geballte Erotik setzt Oscar Kaufmann am Cyr Wheel dezenter ein, als Gentleman mit Sakko und Anzug muss da schon ein aufgeknöpftes Hemd reichen.
Bilder: Ben Duentsch