Doppelt wurden die Autorentheatertage, die traditionell den Spielzeit-Abschluss am Deutschen Theater Berlin bilden, im Jahr 2020 von Corona getroffen: Im Juni war das Haus noch im Lockdown, das gesamte Gastspiel-Programm, u.a. die Jelinek-Uraufführung „Schwarzwasser“ mit Caroline Peters und Martin Wuttke vom Wiener Burgtheater, musste ausfallen.
Am ersten Oktoberwochenende sollten nun immerhin die Uraufführungen der drei Stücke nachgeholt werden, die eine prominente Jury um Nina Hoss und Dea Loher ausgewählt hat. Doch die rasant ansteigenden Corona-Infektionszahlen sorgten dafür, dass „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung in der Regie von Marie Bues am Samstag wenige Stunden vor der Premiere abgesagt werden musste. Im Team des Schauspiels Graz gab es eine Covid19-Infektion, wie die DT-Pressestelle mitteilte.
Bereits am Freitag gingen die anderen beiden Uraufführungen von zwei sehr unterschiedlichen Texten über die Bühne: Dorian Brunz legte mit „beach house“ einen langatmig-mäandernden Text vor, der mit B-Movie-Stereotypen gespickt ist. Das Zwillingspaar Taylor und Ronny Schmetterling (Julia Preuß/Felix Axel Preißler) lernt auf einem Rummelplatz den zwielichtigen Sugardaddy Fernando (Tilo Krügel) kennen, der ihnen eine rosige Zukunft in einer Villa verspricht, wenn sie ihm Körper und Seele verkaufen und für Videosessions zur Verfügung stehen. Mutter Schmetterling (Anna Keil) schwebt in ihrer eigenen Welt, hat keine Kraft, sich um die Kinder zu kümmern und hängt voller Revolutions-Nostalgie ihren Erinnerungen an den zapatistischen Guerrilla-Kampf nach.
Ramallah Aubrecht hat ein Skelett aus Leuchtröhren ins Deutsche Theater Berlin gewuchtet, das fast die gesamte Breite der Bühne ausfüllt und den Spieler*innen als Labyrinth aus Stangen dient. Philipp Preuss, Hausregisseur des Schauspiels Leipzig, nutzt diese Kulisse für eindrucksvolle Lichtinstallationen. Mit wallendem Nebel, dem wummernden Sound (Alexander Nemitz) und ausgefeiltem Lichtdesign (Carsten Rüger) setzt dieser Abend ästhetische Akzente, die über inhaltliche Schwächen und die klischeehaften Figuren hinwegsehen lassen.
Preuss und sein Team lassen die Muskeln spielen und zeigen, dass sie die Klaviatur der Theatermittel beherrschen. Mit großem Aufwand erzeugen sie eine düstere Gothic-Stimmung. Doch der ganze Theaterzauber, den sie trotz Corona-Regeln auf die Beine stellen konnten, bleibt zu sehr Selbstzweck, da der Text, den die Spieler*innen sprechen müssen, nicht überzeugen kann.
Nebenan in den Kammerspielen durfte nach dem Erfolg seiner autobiographischen Geburtstags-Revue „Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht“ zum zweiten Mal Rosa von Praunheim am DT Berlin inszenieren. Der Filmemacher und Schwulen-Aktivist nahm sich in „Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs“ eine schräge Anekdote vor: Ein Frontsoldat im 2. Weltkrieg soll seinen Kameraden erzählt haben soll, dass er als Kind gemeinsam mit Adolf Hitler spielte und eine Ziege dem späteren GröFaz das Gemächt abbiss, als er versuchte, dem Tier ins Maul zu pinkeln.
Ähnlich wie in seinem Film „Männerfreundschaften“, in denen er über homoerotische Neigungen der Weimarer Dichterfürsten Goethe und Schiller spekulierte, stürzt sich Rosa von Praunheim in wilde Phantasien über Hitlers Sexualleben und Neurosen. Božidar Kocevski und Heiner Bomhard, das eingespielte Team aus dem „Jeder Idiot…“-Abend, spielen sich die Bälle zu, wechseln munter ihre Kostüme und zwischen Songs, Dialogen und Slapstick hin und her.
Daraus könnte ein munterer Abend entstehen, doch der Humor bleibt diesmal flach. Furzwitzkissen-Späße wechseln sich mit kleinen Zoten und Holzhammer-Attacken gegen die AfD ab, die weit unter dem Niveau politischen Kabaretts bleiben und jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Partei vermissen lassen.
Der Abend ist als Farce konzipiert und macht den beiden Spielern sichtlich Spaß. Der grobschlächtige Fäkal- und Haudrauf-Humor dieses 75minütigen Festival-Betthupferls erntet kurz vor Mitternacht auch ein paar Lacher beim amüsierwilligen Publikum, ist aber weit vom gewohnten Stil des Hauses entfernt.
Als Ersatz für das ausgefallene Gastspiel-Programm gab das DT während des Lockdowns noch zehn Texte in Auftrag, die in einer Broschüre während des Festivals verkauft und in drei Blöcken als szenische Lesungen vorgestellt werden.
Bemerkenswert war der Audiowalk, den Joanna Praml und Birgit Lengers mit einem fünfköpfigen Schneewittchen-Chor aus Spielerinnen des Jungen DT erarbeiteten. Martina Clavadetschers „Der Glassarg ist doch auch bloß ein öffentliches Bett“ ist ein witziger Text über Rollenmuster, Social Media-Selbstinszenierungen und die Wut junger Frauen und wurde gekonnt in Szene gesetzt.
Die beiden interessantesten Auftragswerke waren zum Festival-Abschluss auf der großen Bühne zu erleben: Elfriede Jelinek haute wie schon nach der Wahl von Donald Trump auch in der Corona-Pandemie wieder besonders schnell in die Tasten und verfasste die assoziativ-pointierte Textfläche „Blindes Sehen“. Maren Eggert kam im glitzernden Virenschutzanzug auf die Bühne und trug die Gedankensplitter und Brückenschläge des Jelinek-Textes im dazu passenden Höllentempo vor, bis sie sich den Mund-Nasen-Schutz schließlich über die Augen zog. Vom Rassismus gegen „maskierte Asiaten“ über Bill Gates und Superspreader bis zum Corona-Hotspot beim Aprés-Ski in Ischgl verknüpft Jelinek zahlreiche Motive, die ihr im Medienstrom der vergangenen Monate auffielen.
Als Trio performten Linda Pöppel, Birgit Unterweger und Almut Zilcher „Das hier (Anrufungen aus der ideologischen Moderne)“, einen sehr facettenreichen Text, der den schwammigen Begriff einer „neuen Normalität“ auseinandernimmt und sich in einem satirisch-zugespitzten Dialog mit der Frage auseinandersetzt, warum das Theater als nicht „system-relevant“ gilt. Die Auseinandersetzung der Figuren mündet in ein Manifest, wie kluges Theater, wie anarchisches Theater, wie ein Theater der Freundschaft aussehen sollte. Milena Michalek ist mit ihrem Text eine der Entdeckungen dieser Autorentheatertage, von ihr kannte ich bisher nur die Stückentwicklung „Schwieriges Thema“, die sich am Kosmos Theater Wien mit der Pubertät auseinandersetzte.
Bei anderen Texten wie „Übergabeprotokolle“ der vielbeschäftigten Sibylle Berg handelt es sich eher um kleine Fingerübungen und Nebenprodukte aus der Schreibtischschublade: Paul Grill hat sich eine Decke übergeworfen und performt in der Box das stumme Tier, das plötzlich in das Leben von vier Menschen getreten ist, deren Stimmen vom Band kommen.
Politisch engagiert sind die Texte von Nele Stuhler („Gaia rettet die Welt“), Doğan Akhanlı („Die vierte Figur“) und Kevin Rittberger („Blackout White Noise“), die sich mit Plastikmüll, der Eichmann-Entführung oder der Kolonial-Vergangenheit befassen. Diesen kleinen Arbeiten, die von einem oder mehreren Spieler*innen vorgelesen werden, war ihr Werkstattcharakter jedoch sehr deutlich anzumerken.
Bild: Rolf Arnold