Reich des Todes

Aus einer Welt, die vom Trump-Wahlkampf um das Weiße Haus und der Corona-Pandemie in Atem gehalten wird, beamen uns Rainald Goetz und Karin Beier, die regieführende Intendantin des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, zurück in die übersichtlicheren 00er-Jahre, das erste Jahrzehnt eines neuen Jahrtausends, das mit großem Optimismus und postmodern-lässiger Ironie begann, die am 11. September 2001 erschüttert wurden.

In „Reich des Todes“ arbeitet Goetz noch einmal auf, was sich in den Monaten und Jahren nach 9/11 in Washington und Abu Ghraib ereignete: Vize-Präsident Dick Cheney und seine engsten Berater nutzten die Gunst der Stunde, um ihre Idee einer „imperialen Präsidentschaft“ voranzutreiben. Von den investigativen Teams der New York Times und der Washington Post wurde hervorragend dokumentiert, wie im Namen des Kampfs gegen den Terror Grundrechte geschleift und parlamentarische Mitbestimmung außer Kraft gesetzt wurden. Dieser abschüssige, von „signing statements“ und „executive orders“ gepflasterte Weg führte direkt zum Lager Guantánmo, wo sie einen erst Jahre später vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärten Sonderstatus jenseits gültiger nationaler und internationaler Rechtsnormen konstruierten, wie ich in meiner Diplomarbeit analysierte.

Noch tiefer haben sich die Folterbilder von Abu Ghraib ins kollektive Gedächtnis eingegraben, auf denen Lynndie England breit grinsend posiert und die sexuell gedemütigten und gefolterten Häftlinge ausstellt. Diese Bilder nehmen breiten Raum in Karin Beiers Inszenierung ein: die Aufnahmen werden groß auf die Wände projiziert und von Clowns übermalt, aber auch szenisch nachgestellt: Tilman Strauß, Maximilan Scheidt und drei Tänzer winden sich genauso ohnmächtig am Boden wie die Häftlinge von Abu Ghraib. Die Namen der bekannten Akteure aus der George W. Bush-Administration wurden jedoch verfremdet und eingedeutscht: aus Dick Cheney wird Selch (Sebastian Blomberg), aus Condoleeza Rice wird Frau von Ade (Sandra Gerling), hinter Kriegsminister Roon (Burghart Klaußner) ist unschwer Donald Rumsfeld auszumachen, dessen zynischer Aktenvermerk ebenfalls in die Textfläche einfloss, dass mehrstündiges Stehen den Gefangenen ohne weiteres zuzumuten sei, da er ja schließlich auch viele Stunden an seinem Schreibtischpult stehe und arbeite. Platt wird diese Verfremdungstechnik nur, wenn plötzlich ein Justizrat Dr. Schill (Daniel Hoevels) durch die Szene irrlichtert: so hieß bekanntlich der als „Richter Gnadenlos“ gestartete damalige Innensenator Hamburgs, der heute nur noch mit peinlichen und koksenden Soap-Auftritten im Trash-TV von sich Reden macht.

21 Jahre nach der letzten Uraufführung eines Goetz-Textes, nämlich von „Jeff Koons“, der vom Party-Hedonismus der 1990er Jahre erzählte, nahm sich Karin Beier am selben Haus das „Reich des Todes“ vor. Die ausufernde Textfläche auf die Bühne zu bringen ist ein Kraftakt. Mit vielen prominenten Gästen und einem großen Teil ihres Ensembles stellt sie während der ersten drei Stunden die Hinterzimmer-Intrigen und die Folter-Szenen nach. Slapstick und Clownerie mischen sich immer wieder in die politischen und juristischen Wortgefechte.

Auf der Zielgeraden switchen Goetz und Beier zurück in die Gegenwart: Oberjustizrat Dr. Kelsen (Markus John) macht den Strippenziehern in einem fiktiven Camp Justice-Verfahren den Prozess, gerät dabei auf dem Laufband japsend außer Atem. Kelsen, der große Gegenspieler von Carl Schmitt im Streit der Rechtsphilosophen der Weimarer Republik, kann sich erneut nicht durchsetzen.

Der Abend mündet nach vier anstrengenden Stunden, die man nach Corona-bedingter Schmalspur-Kost gar nicht mehr gewohnt ist, in ein wütendes Klanggewitter. Der „Beschluss“ des Gerichts wird dem Publikum vom gesamten Ensemble in einem vielstimmigen Chor entgegengeschmettert. Auf die Frage, woher das Böse kommt, antworten die Spieler*innen mit dem SPASS am Herrschen und Demütigen, der LUST am Zerstören und Kaputtmachen. Doch das Theater ist kein Gerichtssaal, heißt es resignierend auf der vorletzten Goetz-Seite.

Am stärksten ist dieser überlange Abend, der zwischen Slapstick und „The Roof is on Fire“-Hardrock der „Bloodhound Gang“ eine überbordende Menge an Theatermitteln aufbietet, in seinen stillen Momenten: Wenn Tilman Strauß nach all den aufwühlenden Folterbildern in einem ruhigen Monolog über das Schicksal des Gefangenen Atta reflektiert oder wenn Josefine Israel in einer Goetz-Passage darüber nachdenkt, auf wen sich der Blick richten soll, auf die Opfer oder die Täter.

Dieser monumentale Abend sticht aus den zu Corona-Zeiten üblichen 90 oder 120-Minütern heraus und ist allein schon wegen seiner Entschlossenheit bemerkenswert, mit der er sich diesem wuchtigen Goetz-Text stellt. „Reich des Todes“ war früh einer der Favoriten der Saison und wurde zurecht zum Theatertreffen 2021 eingeladen.

Bilder: Arno Declair

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