Als Geister-Premiere zog das Schauspielhaus Hamburg seine „Geschichten aus dem Wiener Wald“ trotz aller Corona-Widrigkeiten und trotz des Lockdowns durch. Der knapp 1.000 Menschen fassende Saal blieb bis auf die Regisseurin und die für den Live-Stream notwendigen Techniker*innen leer, 2.000 Zuschauer*innen konnten das Geschehen auf der Bühne nach Voranmeldung vor den heimischen Bildschirmen verfolgen.
Geister- und rätselhaft war auch die wortlose erste Viertelstunde dieses Abends, bei der die Spieler*innen wie Zombies über die Bühne huschten. Ihre Gesichter sind hinter Tüchern und Masken verborgen, die Regisseurin Heike M. Goetze selbst entworfen hat. Auch später, als die ersten Worte fallen, ist das Horváth-Personal nur schwer zu unterscheiden. Als „fremdartig-unfertige Menschen“, die man kaum Individuen nennen könne, sehe Goetze und ihr Dramaturg Ralf Fiedler die Figuren aus dem Volksstück.
In ausführlichen, philologisch interessanten Aufsätzen im Programmheft begründen sie die Regie-Entscheidung, warum alle Spieler*innen hinter Masken verschwinden, mit zahlreichen Belegen für ihre These, dass die „Maske“ und die „Demaskierung“ zentrale Begriffe in Horváths Werk sind. Der Preis dieser Regie-Entscheidung ist jedoch, dass auch die gesamte Inszenierung an Konturen verliert und in einem diffusen Nirvana versinkt.
Zwischen geckerndem Lachen, einer Parodie auf die Wiener Walzer-Seligkeit und Schweinehälften, die über die Bühne gezerrt werden, vollzieht sich eine Horváth-Freestyle-Version, bei der Josef Ostendorfs „Zauberkönig“ noch am klarsten zu erkennen ist.
Kurz vor dem düsteren Finale erleben wir das Ensemble ein weiteres Mal in langen, wortlosen Szenen, diesmal in einer Techno-Ambient-Trance-Choreographie, bevor alle Spieler*innen wie auf einer Hühnerstange aufgereiht regungslos mitansehen, wie Marianne (Eva-Maria Nikolaus) ihr blutüberströmtes, totes Kind im Arm hält und der Kreislauf der Gewalt einfach weitergeht.
Heike M. Goetze überrascht bei ihrer ersten Arbeit in Hamburg mit einer sehr experimentierfreudigen und eigenwilligen ästhetischen Handschrift. Erst vor wenigen Wochen polarisierte ihre Inszenierung von Sivan Ben Yishais „Liebe/eine argumentative Übung“, einem stummen, tranceartigen Tanz, bei dem der Text über weite Strecken nur auf einem Schriftband mitlief. Ähnlich schwer zugänglich ist auch diese Horváth-Inszenierung.
Dementsprechend war der Live-Stream zwar für das Theatertreffen 2021 in der Diskussion, schaffte es aber nicht in die 10er-Auswahl.
Bilder: Arno Declair