Oh Mercy!

Ein düsteres Bild zeichnet Arnaud Desplechin in seinem Film „Roubaix, une lumière“ (internationaler Titel: „Oh Mercy!“) von seiner Heimatstadt. Vom alten Glanz als Hochburg der Textil- und Kohleindustrie ist in Roubaix im Norden Frankreichs, an der Grenze zu Belgien nur noch wenig zu spüren. Die Region hat mit einem tiefgreifenden Strukturwandel zu kämpfen, mit Abwanderung, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit.

Durch eine dunkle Weihnachts-Nacht schickt Desplechin seine Polizisten: den wortkargen, algerisch-stämmigen Daoud (Rouschdy Zem), der hier geboren und aufgewachsen ist und mit nüchterner Distanz auf die Lage blickt, und dem Neuling Louis (Antoine Reinartz). Gemeinsam treiben sie durch die Nacht, bekommen es mit ausgebrannten Autos, Raubüberfällen und Kleinkriminellen zu tun, die sich gegenseitig beschuldigen.

Desplechin zeichnet in dieser ersten Stunde ein Panorama voller Tristesse. Immer neue Nebenfiguren werden eingeführt, scheinbar ziellos mäandert die Erzählung dahin. Alles dient dem Ziel, in düsteren Farben auszupinseln, mit was für einer unwirtlich-gottverlassenen Gegend wir es hier zu tun haben.

Erst in der zweiten Stunde fokussiert sich „Oh Mercy!“: es wird zum Verhör-Kammerspiel auf engstem Raum. Getrennt von einander werden Marie (Sara Forestier) und Claude (Léa Seydoux) befragt, ein lesbisches Paar, das mit Claudes Sohn in ärmlichen Verhältnissen lebt und offensichtlich die 80jährige Nachbarin Lucette brutal erdrosselt und ausgeraubt hat.

Mit allen Kniffen der „God cop, bad cop“-Strategie entlocken Capitain Daoud und sein Team den Beschuldigten die Wahrheit. Scheibchenweise ziehen sie ihnen das Geständnis aus der Nase, klären den genauen Tathergang schließlich bei einem Re-Enactment am Tatort.

Roschdy Zem wurde für seine Verkörperung des unnachgiebigen, aber stets gelassenen Daoud mit dem César für den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet. Léa Seydoux wechselt diesmal vom glamourösen Bond-Girl zur tränenüberströmten Prekariats-Schönheit, die bis zuletzt versucht, die Schuld auf ihre Freundin mit den wesentlich schlechteren Nerven abzuwäzen.

„Oh Mercy!“ zerfällt deutlich in zwei Teile: erst elegisches Tristesse-Panorama, dann konzentriertes Verhör-Kammerspiel. Gemeinsam ist beiden Teilen, dass sie etwas zu lang geraten sind und sich Desplechin zu sehr in Details verliebt hat, obwohl die jeweilige Botschaft längst angekommen ist.

Im Wettbewerb von Cannes 2019 hatte „Roubaix, une lumière“ seine Premiere, ging dort aber mit gemischten Kritiken leer aus. Seine Deutschland-Premiere hat das Drama bei der Französischen Filmwoche, die noch bis morgen online läuft.

Bilder: Shanna Besson/Wild Bunch

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