Das Schauspielhaus Bochum war eines der ersten Häuser, die nach dem Frühjahrs-Lockdown wieder öffneten. Intendant Johan Simons, der für nachdenkliche, leise Inszenierungen bekannt ist, wirft zur Wiedereröffnung die komplette Theatermaschinerie auf Hochtouren an. Lichtkegel kreisen, die Bühne hebt und senkt sich, die Technik des wochenlang leerstehenden Hauses wird stolz präsentiert, wie beim Bodybuilding jeder Muskel angespannt. An die Eröffnung der Intendanz von Chris Dercon an der Volksbühne, die nach wenigen Monaten so unglücklich endete, erinnert diese Eingangs-Sequenz.
„Die Befristeten“ eröffnete damals eine Phase vorsichtiger Lockerungen: nur 50 Zuschauer*innen durften dabei sein, ihre Maske nicht ablegen und verloren sich in einem Raum, der auf 800 Gäste ausgelegt ist. Nach und nach öffneten auch die anderen großen Häuser im deutschen Sprachraum wieder und konnten bis zum Herbst einige Premieren zeigen, bevor die zweite Welle mit so großer Wucht heranrollte, dass auch kein noch so ausgefeiltes Hygienekonzept verhindern konnte, dass die Theater schließen mussten und auch noch auf unbestimmte Zeit geschlossen bleiben.
Als Geistervorstellung-Live-Stream präsentiert das Schauspielhaus Bochum nun mitten im zweiten Lockdown seine Inszenierung eines nur noch selten gespielten Stücks, das Elias Canetti in den 1950er Jahren schrieb. „Die Befristeten“ eignen sich gerade deshalb besonders gut für die Corona-Zeit mit ihren Abstandsregeln, weil es ein philosophisches Gedankenexperiment ist. Was würde es für eine Gesellschaft bedeuten, wenn jeder Mensch genau wüsste, in welchem Jahr er sterben muss und wie viel Lebenszeit ihm bleibt. Würden wir die verbleibende Zeit besser einteilen und intensiver nutzen? Ein Großinquisitor, der hier Kapselan genannt wird, gilt als unumschränkte Autorität und ist der einzige, der die Kapsel öffnen darf, die jeder um den Hals trägt.
Es kommt, wie es kommen muss: ein Mann (Stefan Hunstein) beginnt zu zweifeln und Fragen zu stellen. Zunächst wird er von den anderen als Spinner abgetan und ausgelacht. Doch es stellt sich heraus: er hatte recht, der Kapselan (Jing Xiang) hat seine Macht auf einer Lüge aufgebaut. Das Todesjahr ist nicht festgelegt, auch „Die Befristeten“ müssen lernen, mit der Unsicherheit und Ungewissheit zu leben.
Bemerkenswert macht „Die Befristeten“ vor allem, dass der regieführende Intendant Johan Simons den kompletten Saal als Spielfläche nutzte. Auch im Live-Stream wird das Konzept der Inszenierung sehr deutlich: die Spieler*innen postieren sich mehrfach mit großem Abstand an den Aufgängen und neben den gähnend leeren Sitzreihen und legen damit ihre Finger in die Wunden des coronabedingt geschlossenen Theaters. Die Atmosphäre im Bühnenraum ist so dystopisch wie die Situation der „Befristeten“, die früh spüren, dass sie in einer nur scheinbaren Sicherheit leben, sich aber weiter selbst belügen.
Bilder: Birgit Hupfeld