Zu einer grusligen Zeitreise laden Boris Nikitin und das Staatstheater Nürnberg mit ihrer Inszenierung „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ ein: Ganz aufgeregt diskutierten die Feuilletons der Leitmedien im Frühjahr 2000 über ein Trash-TV-Phänomen, das aus den Niederlanden herüberschwappte. Irgendwo in der Kölner Peripherie verbrachten mehr oder minder verhaltensauffällige Mitbürger mehrere Wochen in einem Container miteinander. Sie standen unter ständiger Beobachtung der TV-Kameras, lieferten sich merkwürdige Balz- und Revierkämpfe. Auch wer nicht RTL 2 schaute, kam an dem Phänomen kaum vorbei, da die Boulevardzeitungen das Neueste aus dem Container-Elend in großen Schlagzeilen vermeldeten und sich auch die seriösen Medien mit der Frage befassten, was die damals neue Welle von Trash-Reality-Formaten für unsere Gesellschaft bedeutet.
Der Hype um die „Big Brother“-Reihe flachte recht schnell wieder ab, trotz diverser Ableger und des Versuchs einer Neuauflage zum 20. Jubiläum kümmert sich kaum noch jemand um dieses Format, das Oliver Kalkofe zwar als Fundgrube für treffsichere Parodien dient, sich aber totgesendet hat. Regisseur Boris Nikitin, der sich, wie er im Nachgespräch zum Online-Gastspiel beim Heidelberger Stückemarkt erzählte, damals vor zwanzig Jahren nicht weiter für das TV-Format interessiert hat, sieht es dennoch als Zeitenwende. Seine These ist, dass damals der Druck stieg, sein Privatleben und seine Persönlichkeit möglichst glamourös in Szene setzen. Bereitete „Big Brother“ also den Weg für die Welt der Influencer und die Selbst-Optimierung auf Social Media-Kanälen wie Instagram und TikTok? Eine interessante Frage, die die Nürnberger Inszenierung „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ aufwirft, aber nicht beantworten kann.
Der Theaterabend, der auf einer Webserie basiert und im Sommer zwischen den Lockdowns vor nur 50 Zuschauern Premiere feiern konnte, ist über weite Strecken ein Reenactment der Dialoge der damaligen Container-Insassen. Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler des Nürnberger Staatstheaterensemble, die wie Yascha Finn Nolting damals oft erst im Grundschulalter waren, sprechen die Alltags-Wortgeplänkel und oft recht banalen Äußerungen der Big Brother-Crew nach. Die Kamera folgt ihnen bis auf die Toilette oder ins Schlafzimmer. Auch wer die Sendung damals nicht gesehen hat, bekommt durch dieses Reenactment einen guten Eindruck, mit welchen ästhetischen und dramaturgischen Mitteln die TV-Show arbeitete.
Die Originaltexte wurden durch erfundene Passagen, die stilistisch nah an den O-Tönen bleiben, und nach der Pause mit einigen Fremdtexten, vor allem aus dem Orwell-Klassiker „1984“, angereichert. Im Kern kommt der Abend aber nicht über das Reenactment von TV-Vergangenheit hinaus, das beim Blick in gruslige Nischen des Privat-TVs kaum neue Erkenntnisse zu Tage fördert.
Bilder: Konrad Fersterer