Dawson

Parallel zu den ersten Prognosen am Bundestagswahl-Abend aus den Studios von ARD und ZDF im Reichstag hob sich am 26. September pünktlich um 18 Uhr einige Kilometer weiter westlich an der Deutschen Oper Berlin der Vorhang für eine Doppel-Premiere von David Dawson.

Mitten in der Unsicherheit und Tristesse des endlos scheinenden Januar-Lockdowns entwarf der britische William Forsythe-Schüler zwei Choreographien, die in diesem Herbst auf dem Spielplan des Staatsballetts stehen. Beide Choreographien sind dezidiert politisch und verbreiten eine sehr optimistische Grundstimmung.

„Citizen Nowhere“ konzipierte Dawson unter dem Schock des Brexit-Votums seiner Landsleute schon 2017 für das Dutch National Ballet in Amsterdam. Von der dortigen Uraufführung stammt auch die Einspielung von Szymon Brzoskas Komposition, der Orchestergraben bleibt leer. Die Bühne gehört ganz allein Alexander Bird, der ein träumerisches Solo nach Motiven aus dem Kinderbuch-Klassiker „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry tanzt.

Vor Eno Henzes oszillierender Bühne, über die markante Zitate der Buch-Vorlage, Schriftzeichen und immer wieder eine Frau ganz in Rot flimmern, schwelgt Bird in einem Traum von einer Idylle und einer schöneren Welt. In seltenen Momenten werden Angst und Unsicherheit spürbar, aber das halbstündige Solo „Citizen Nowhere“ versprüht eine fast schon kindliche Zuversicht nach einer harmonischen, heilen (Post-Corona)-Welt, wie sie in der berühmten Buchvorlage spürbar wird.

Voller Optimismus und Zuversicht ist auch der einstündige zweite Teil des Abends. Als „Voices“ werden die hehren Ansprüche aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hinter denen die Realpolitik so häufig zurückbleibt, in verschiedenen Sprachen beschworen. Zu einem Feel-good-Klangteppich von Max Richter tanzt das Ensemble des Staatsballets Berlin die Dawson-Choreographien. Oft wird an diesem Abend die Sehnsucht nach der Schönheit des klassischen Balletts und nach der Perfektion des Spitzentanzes der Ballerinen bedient, seltener lässt Dawson modernere Akzente einfließen.

Der ganz große Wurf war diese Doppel-Choreographie noch nicht, aber ein anerkennenswerter Neustart im doppelten Sinn: als Neustart der Spielzeit nach dem Lockdown und mitten im Neufindungs-Prozess nach dem unerwartet schnellen Abgang von Johannes Öhmann und Sasha Waltz an der Spitze des Staatsballetts.

Bilder: Yan Revazov

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