Zu spätem Ruhm kam die französische Schriftstellerin Annie Ernaux: die Begeisterung für die autofiktionalen, soziologischen Werke von Didier Eribon und Èdouard Louis führte dazu, dass auch die Romane von Ernaux hierzulande entdeckt wurden. „Erinnerung eines Mädchens“ (2016) wurde in letzter Zeit von mehreren großen Bühnen adaptiert: am Münchner Residenztheater in Starbesetzung kurz nach dem Lockdown, an der Berliner Schaubühne demnächst als Soloprojekt.

Die (Wieder-)Entdeckung führte dazu, dass auch „L‘ événement“, das schon 2000 bei Gallimard erschien, im vergangenen Herbst erstmals auf Deutsch herauskam. Kurz davor hatte in Venedig Audrey Diwans Verfilmung dieses Sozialdramas Premiere und wurde von der Jury einstimmig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Betont nüchtern ist der Stil von Ernaux, auf den ersten Blick fast ein wenig spröde. Schonungslos berichtet sie vom Leidensweg einer jungen Literaturstudentin in den 1960er Jahren. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und kann als erste in ihrer Familie den Aufstieg durch Bildung schaffen. Doch nach einer Party mit One Night Stand, wie man heute sagen würde, wird sie schwanger. Eine Abtreibung steht damals noch unter Strafe, der Kampf der Frauenbewegung um die Liberalisierung des Paragraphen auf den Straßen und in Magazinen wie „Emma“ spielt in „Das Ereignis“ noch keine Rolle. Anne (Anamaria Vartolomei), hinter der unschwer die Autorin Annie Ernaux auszumachen ist, hat keine Verbündeten und ist ganz auf sich gestellt.

Anamaria Vartolomei als Anne in „Das Ereignis“

Freundinnen wenden sich ab und lästern hinter dem Rücken über sie, Ärzte schicken sie weg oder verschreiben ihr Mittel, die den Effekt haben, den Embryo widerstandsfähiger zu machen. Schnörkellos und in Großaufnahmen bleiben das Drehbuch von Audrey Diwan und Marcia Romano und die Kamera von Laurent Tangy ganz bei der Hauptfigur. Ihre Versuche, das ungeliebte Kind loszuwerden, werden immer drastischer. Sie malträtiert sich mit Nadeln, begibt sich in die Hände einer „Engelmacherin“, wieder und wieder erfolglos.

Das Historiendrama „Das Ereignis“ macht deutlich, was für eine Katastrophe die ungewollte Schwangerschaft für die junge Frau ist: ihr Studium müsste sie mit Kind abbrechen, ihren Traum, Lehrerin oder Schriftstellerin zu werden, müsste sie aufgeben. Ohne übertriebenes Pathos, sondern ganz sachlich und Etappe für Etappe stellen Roman-Vorlage und Verfilmung die verzweifelte Lage der Protagonistin dar. Gerade durch den Verzicht auf effekthascherische Mittel wird der Film eindringlich und packend.

Nach dem Erfolg in Venedig lief „Das Ereignis“ im Herbst 2021 auf weiteren Festivals, z.B. in Hamburg, Wien und bei „Around the World in 14 films“ in der Berliner Kulturbrauerei, bevor es am 31. März 2022 in den deutschen Kinos startete.

Bilder: © 2021 PROKINO Filmverleih GmbH

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