Meine Stunden mit Leo

Manchmal gibt es sie noch, die kleinen Perlen im Berlinale-Überangebot, die Kritik und Publikum begeistern und auf die sich am Ende (fast alle) einigen können. „Good Luck to you, Leo Grande“ lief allerdings nicht im Wettbewerb um die Bären, sondern als Berlinale Special außer Konkurrenz, die Uraufführung war schon wenige Wochen zuvor in Sundance, das Berlin immer häufiger die spannendsten Filme wegschnappt.

„Meine Stunden mit Leo“, wie der Film im deutschen Verleih heißt, ist eine sehenswerte Tragikomödie, die gekonnt auf einem schmalen Grat balanciert. Der australischen Regisseurin Sophie Hyde, die bei der Berlinale mit ihrem Generation 14plus-Gewinnerfilm „52 Tuesdays“ (2013) erstmals auffiel, und ihrer Drehbuchautorin Katy Brand gelingt ein ebenso feinfühliges wie lustiges Kammerspiel, das auf dem engen Raum eines Hotelzimmers im Lockdown gedreht wurde.

Natürlich trägt die britische Oscar-Gewinnerin Emma Thompson diesen Film. Schlagzeilen schrieb Thompson mit der letzten Szene: Sie steht allein vor dem Spiegel und betrachtet ihren nackten Körper, prüfend, aber auch selbstbewusst und mit großer Selbstverständlichkeit. Als Tabubruch feierte Maxi Braun im „Freitag“ diesen Auftritt: Frauen über 40 verschwinden nach und nach von der Leinwand, schon gar nicht erleben wir sie als selbstbestimmte, sexuelle Wesen. In einem lesenswerten ZEIT-Essay benennt Sebastian Seidler den Horror-Film „X“ mit Mia Goth und eben die Tragikomödie „Meine Stunden mit Leo“ als zwei Werke, die dem weiblichen Begehren Bilder geben.

Doch natürlich bietet Thompson in den knapp zwei Stunden wesentlich mehr als einen Empowerment-Striptease einer Weltklasse-Schauspielerin: in klugen, fein gearbeiteten Dialogen robbt sich ihre Figur an ihre Wünsche heran, baut ihre Hemmungen und Blockaden ab. Nancy, wie sich die verwitwetete Religionslehrerin nennt, hatte noch nie einen Orgasmus und bucht deshalb den jungen, strahlend schönen Sexworker Leo (Daryl McCormack). Als echter Kontrollfreak machte sie sich eine Liste, welche Sexpraktiken und Stellungen sie ausprobieren möchte.

Leo nimmt ihre ihre Ängste, in einem Mix aus subtiler Ironie, viel Einfühlungsvermögen, Charme und Neugier auf seine Mitmenschen, wie sie wohl nur die wenigsten realen Sexworker zu bieten haben, erarbeitet er sich das Vertrauen von Nancy, so dass sie loslassen und genießen kann. Dass der Film funktioniert und nicht in Klischees abstürzt, liegt auch daran, dass McCormack mehr als nur ein gut gebauter Posterboy ist, sondern auch schauspielerisch in dem Ping-Pong-Duell mit Thompson bestehen kann.

So entwickelte sich „Meine Stunden mit Leo“ zu einer der positiven Überraschungen des Kinojahres. Wer den Film auf der Berlinale verpasst hat, kann ihn seit 14. Juli 2022 im Kino nachholen.

Bild: © Wild Bunch Germany

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