Colours Festival 2022

Besonders gefeiert wurde bei diesem Stuttgarter Festival das Nederlands Dans Theater mit Sharon Eyals hochenergetischem Bedroom Folk. Dies war 2015 bei der Premiere in Den Haag einer der ersten großen Erfolge der israelischen Choreographin. Das 27 Minuten kurze Stück hat bereits alles, was eine Eyal-Produktion ausmacht: mitreißende, vorwärtstreibende Beats, ein zur Phalanx aufgereihtes Ensemble und Tänzer*innen, die sich mit schnellen, ruckartigen, an Androiden erinnernden Bewegungen in einen Beschleunigungsrausch tanzen.

Erwartungsgemäß ganz anders war die Stimmung im Mittelteil des Nederlands Dans Theater-Triptychons: Marco Goecke lud mit I love you Ghosts, seiner mittlerweile 11. Arbeit für die Cpmpagnie, die im Februar 2022 nach dem Omicron-Lockdown in unserem Nachbarland uraufgeführt wurde, zu einer traumverloren-slapstick-artigen Zombie-Clownerie, die von Harry Belafonte-Klängen und weiteren melodramatischen Musikstücken begleitet wird.

Mit einem zweiten modernen Klassiker endete dieses Promi-Gastspiel: in One flat thing, reproduced ließ William Forsythe seine legendäre Frankfurter Comapagnie zur Jahrtausendwende im Bockenheimer Depot über einen Parcours aus zwanzig eng nebeneinander aufgestellten Tische springen und toben. Dieses „Feuerwerk von springenden, kugelnden und einander stützenden oder anmutenden Tänzern, die virtuos auf, über oder unter den in exakten Abständen aufgestellten Tischen balancierten„, wie es Michael Klier auf Bachtrack.com beschrieb, wird von Thom Willems und seinem Electro-Sound vorangetrieben.

Im kleinsten Saal des Theaterhauses gastierte bereits einen Tag davor „La Macana“ mit Pink Unicorns: dahinter verbirgt sich ein 70minütiges Vater-Sohn-Duell, das im September 2018 im Theater im Pumpenhaus in Münster Premiere hatte und seitdem über die Festivals tourt. Die Produktion war beispielsweise schon bei der Tanzplattform im März 2020 in der Münchner Muffathalle und beim PURPLE-Tanz-Festival für junges Publikum im Berliner HAU 1 im August 2021 zu Gast.

Bild: Rosin a Rojo

Während das Publikum Platz nimmt, traben Vater Alexis Fernández und sein Sohn Paulo in Bade- bzw. kurzer Sporthose über die schmale T4-Bühne. Sie flüstern im Small-Talk und starten dann ein Frage-Antwort-Spiel: Was ist die Hauptstadt von Angola? Nenne mir eine amerikanische Autorin?! So geht das verbale Ping-Pong hin und her, unterbrochen von einigen Slapstick-Momenten.

Interessanter wird die Produktion, an der neben Caterina Varela auch Samir Akika, Tanzdirektor vom Bremer Theater und Experte für Streetdance, mitgearbeitet haben, wenn sie sich von Comedy zu Tanz weiterentwickelt. Zu mitreißendem Pop verhandeln Vater und Sohn typische Alltags-Situationen und stellen Konfliktmuster nach. Hier ist zwar auch das ein oder andere Klischee dabei, aber während der 70 Minuten gelingt Vater und Sohn Fernández eine unterhaltsame und erstaunlich präzise Arbeit, in der sie ironisch über ihr Verhältnis erzählen. Mit nackten Oberkörpern ringen sie miteinander, fordern sich immer wieder heraus, ziehen sich mit ihren jeweiligen Macken auf, lassen aber auch die zärtliche Sympathie erkennen, die beide verbindet.

Nach schleppendem Beginn kann diese kleine Arbeit „Pink Unicorns“ also doch überraschen und wurde zurecht mit starkem Applaus bedacht.

Eine interessante Digital-Avantgarde-Spielerei war aus Großbritannien zu Gast: Zunächst lässt Alexander Whitley in Anti-Body nur Bits und Bytes flimmern, bevor sich seine Tänzer*innen dazwischen mischen. Als „führender Technologie-Freak unter den Choreograph:innen“ wurde er auf dem Programmzettel vorgestellt, tatsächlich sticht seine technisch ausgefeilte Performance innerhalb der Tanz-Welt heraus. „Motion-Capture-Punkte auf den Körpern der Tänzer:innen projizieren sie direkt in die virtuelle Welt, verfremden und überhöhen ihre Bewegungen“, ist in der Einführung zu lesen.

Bild: Alexander Whitley

Die stilprägenden Merkmale der Whitley-Choreografien hat Guardian-Kritikerin Lyndsey Whindship im vergangenen Jahr anlässlich einer „Overflow“-Aufführung in Sadler´s Wells, London, herausgearbeitet: in den stärksten Momenten entsteht ein fast hypnotischer, trancehafter Sog. Die einzelnen Tänzer*innen sind in dem Techno-und Electro-Setting schwer zu unterscheiden, sie stellen sich ganz in den Dienst des Sound-Choreographie-Installations-Gesamtkunstwerks.

In „Overflow“ machte die Londoner Kritikerin auch Gaga-Einflüsse aus, die in „Anti-Body“ jedoch nicht sichtbar sind. Dafür gibt es im Rahmen des „Colours“-Festivals eine geballte Ladung von „Mr. Gaga“ himself: Ohid Naharins Kamuyot wurde schon 2003 in Tel Aviv uraufgeführt und war ein Publikums-Magnet bei der ersten Ausgabe des Colours-Festivals auf dem Stuttgarter Killesberg im Sommer 2015.

Im Schotten-Rock-Outfit sitzt der Nachwuchs des Gauthier Dance Ensembles zu Beginn mitten unter den Zuschauer*innen. Nach und nach entern sie die Tanzfläche, die in der Turnhalle des Theaterhauses zwischen den vier Tribünen freigelassen ist. Im unverkennbaren Gaga-Stil zucken und taumeln sie zu einem wilden Stil-Mix aus Klassik, Songs von Lou Reed oder Asia-Pop.

Bild: Jeannette Bak

Der 50minütige Abend, der während der gesamten Festival-Wochen gezeigt wurde, während es von den Gastspielen naturgemäß nur wenige Vorstellungen gab, feiert die Lust am Tanz und an der Bewegung. Wer hier etwas zurückhaltender ist, sollte Marcel Heupermans Warnung aus Castorfs Wiener Jelinek-Inszenierung berücksichtigen: Besonders diejenigen, die in der ersten Reihe saßen, riskierten es, dass sie vom Ensemble mit auf die Bühne gezogen wurden. Anfangs zuckten die Laien noch zögerlich, zum Finale entwickelte sich eine muntere Party auf der Tanzfläche.

Vorschaubild aus „Bedroom Folk“: Rahi Rezvani

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