Sonne

Die „Encounters“-Sektion der Berlinale kommt oft sehr verquält daher: sperrige Experimente und Kopfgeburten dominieren diese Reihe. Umso schöner, dass Kurdwin Ayoub, die in Wien-Simmering als Tochter irakischer Kurden aufwuchs, die Sektion im Februar 2022 aufmischte.

„Sonne“ kommt knapp ein Jahr später nun auch ins Kino: schon die erste Szene ist wunderbar lebendig. Drei Teenagerinnen im Hijab drehen eine herrlich-schräge Version des R.E.M.-Hits „Losing my religion“, die viral geht: „Ich hab‘ mich noch nie so schiach und geil zugleich gefühlt“, bringt es eines der Mädchen in breitem Wienerisch auf den Punkt.

Auch die knapp 90 Minuten verhandeln die Debatte um die Integration, ihr Gelingen und Scheitern, in einem erfrischend-unkonventionellen Ton. Die junge Regisseurin mixt Alltagss-Szenen aus dem Leben der kurdisch-stämmigen Yesmin (Melina Benli), von Bella, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen (Law Wallner) und der blonden Nati, die als einzige des Trios keinen Migrationshintergrund hat, (Maya Wopienka) mit leichtfüßig eingestreuten Videos und Social Media-Clips.

Yesmins Vater wird zum großen Fan und vergöttert seine Tochter ohnehin, er kutschiert das Gesangs-Trio anfangs auch zu diversen Auftritten. Er ist alles andere als der typische Patriarch, leiht sich Mascara von Yesmin, um grau werdende Stellen im Bart nachzufärben. Strenger ist die Mutter, die unter den Traumata von Krieg und Flucht leidet, sich um den Ruf der Familie sorgt und auch die Späße mit ihrem heimlich ausgeliehenen Hijab alles andere als lustig findet. Auf dem engen Raum in der Wohnung von Yesmins Familie kommt es zu Konfrontationen, knallen immer wieder die Türen, für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt Bruder Kerem. Dass er auf einem Video, auf dem ein Schwein abgestochen wird, zu sehen ist, ruft die Polizei auf den Plan.

Anders als in den gewohnten TV-Problem-Filmen werden die Konflikte hier nur im Hintergrund mitverhandelt. Ganz unaufgeregt erzählt „Sonne“, wie Yesmin selbstbewusster wird und mehrfach energisch kontert, wenn ihre Freundinnen, deren neue Partner oder Außenstehende sie belehren wollen, wie sich eine junge Muslima zu verhalten hat. Als gelungene Mischung aus Komödie, Generation Z-Porträt und Integrations-Drama hält Ayoubs Debüt-Film, den sie mit Laien drehte, geschickt die Balance. Eine lustige Randnotiz ist dass ihre eigenen Eltern auch Yesmins Eltern spielen.

Erst gegen Ende droht „Sonne“ etwas die Luft auszugehen: etwas unmotiviert wirkt, dass sich Yesmins Freundinnen nicht nur von ihr abwenden, sondern frisch verliebt in junge Kurden plötzlich nach Erbil abtauchen. Aber trotz dieses holprigen Schlusses ist „Sonne“ eine der Überraschungen des Kino-Jahres, gestern startete der Film nach einer Preview in der Film-Reihe der Volksbühne im September endlich bundesweit.

Bild: Neue Visionen Filmverleih

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