Als leichte Sommerkomödie kommt „Aftersun“ auf den ersten Block daher. Calum, ein jungenhaft wirkender Vater (Paul Mescal), und seine etwas altkluge neunjährige Tochter Sophie (Frankie Corio) albern in einer türkischen Ferienanlage herum und filmen sich mit den wackligen VHS-Kameras. Die Szenen spielen offensichtlich irgendwann in den 90ern: im Hotelzimmer steht noch ein alter Röhrenfernseher, als Animation im All inclusive-Resort gibt es den damaligen Sommer-Hit „Macarena“.

In den Zeiten von Corona und Ukraine-Krieg sehnen sich viele zurück in hoffnungsvollere, unbeschwertere Jahre wie die Ära zwischen Mauerfall und 9/11. Bei Charlotte Wells, der 1987 in Edinburgh geborenen Regisseurin, kommt in ihrem autobiographischen Debütfilm noch etwas anderes hinzu: ein langsam ausbleichendes Polaroid war Auslöser für „Aftersun“.

Zwischen die Urlaubsimpressionen mischen sich immer öfter düstere Bilder: die mittlerweile erwachsene Sophie hat selbst ein schreiendes Baby und blickt immer wieder auf die alten Bilder und Aufnahmen. Je länger sie schaut, desto öfter zeigt sich eine andere Seite ihres Vaters. Er war nicht nur der gutgelaunte Spaßmacher, der nach der Scheidung von seiner Partnerin mit der Tochter einen schönen Urlaub verbringt, sondern findet keinen Halt, ist in einigen Momenten sogar verzweifelt und depressiv. Was aus Calum wurde, können wir nur erahnen und wird nie ausgesprochen. Doch Paul Mescal, der mit „Normal People“ (2020) bekannt wurde, lässt die Brüche seiner Figur zwischen dem großen Jungen und dem verzweifelten Mann auch ohne viele Worte deutlich werden. Dafür war er auch als bester Hauptdarsteller beim Europäischen Filmpreis nominiert.

„Aftersun“ ist ein typischer Kritikerliebling, berauscht sich an seinen Nuancen und seinen subtilen Andeutungen. In der Tradition von Chantal Akerman, Wong Kar-Wai und Andrea Arnold sieht sich die junge britische Filmerin Charlotte Wells, die in der Cannes-Nebenreihe Semaine de la Critique mit dem Prix French Touch du Jury ausgezeichnet wurde. Seitdem folgten eine Reihe weiterer Ehrungen: bester Nachwuchsfilm beim Filmfest München (CineVision-Award) und bei den New York Film Critics Circle Awards, sieben British Independent Film Awards, zwei Preise beim Festival du cinéma américain de Deauville, beste Nachwuchs-Regie bei den Gotham Awards in New York, weitere Preise auf den Festivals in Montclair/New Jersey, Sao Paulo und Sarajevo.

Bild: Mubi

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