Etwas rührselig beginnt der Netflix-Familienfilm „Pinocchio“ von Guillermo del Toro und Mark Gustafson: zu Klängen des einschlägig bekannten Alexandre Desplat suhlt sich der Schreiner Gepetto in der Trauer um den Tod seines Sohnes. Die Holzfigur, die er schnitzt und zum Leben erweckt, wird für ihn zum Sohn-Ersatz. Dies ist ein Kniff von Guillermo del Toros Adaption des Kinderbuchklassikers von Carlo Collodi.
Der „Pinocchio“ des mexikanischen Hollywood-Fachmanns für Fantasy wird zur Reflexion über schwierige Vater-Sohn-Beziehungen, Liebe und vor allem auch Tod und Vergänglichkeit. Unendlich viele Leben hat die Holzfigur potentiell, erklärt ihm die Sphinx-Gestalt an der Schwelle zum Jenseits, an der sich Pinocchio immer wieder einfindet.
Gefährlich nah gerät der Animationsfilm mitunter an den Kitsch, bedient die Pathos- und Rührungs-Konventionen der amerikanischen Filmindustrie und schielt auf die Golden Globe (drei Nominierungen) und Oscar-Verleihungen zum Jahresbeginn. Doch del Toro bleibt hier nicht stehen, er verknüpft seine Vater-Ersatz-Sohn-Story mit zwei weiteren Strängen: Einerseits bietet diese „Pinocchio“ eine unterhaltsam- abenteuerliche Heldenreise der Figur, die von der Grille Sebastian (Ewan McGregor) liebevoll-ironisch kommentiert wird und ihm einige skurrile Begegnungen beschert, z.B. mit dem fiesen Zirkusdirektor Volpe (Christoph Waltz), der ihn mit Knebelverträgen ausbeutet, und seiner rechten Hand, dem Pavian Spazzatura (Cate Blanchett), oder einem Seeungeheuer.
Zum anderen ist der Film aber auch eine düstere, ganz unverschlüsselte Parabel auf den italienischen Faschismus. Del Toro, den der Zivilisationsbruch der 1930er Jahre bereits in „Pan´s Labyrinth“ (2006) am Beispiel von Francos Spanien umtrieb, verlegt Collodis 1881 erschienen Roman um fünf Jahrzehnte in die Zeit des Faschismus. Dem Duce Benito Mussolini wird nicht nur mit Propaganda-Graffiti an den Häusern gehuldigt, er tritt auch in einer kurzen Varieté-Nummer als Zuschauer auf, in der ihn Pinocchio mit einem vulgären Spottlied beleidigt. Dem anarchischen Ungestüm der kindlichen Puppe stellt del Toro außerdem die Figur des Ortsgruppenführers Podestà (Ron Perlman) gegenüber, der den unsterblichen Pinocchio für sein Jugend-Camp und den Kriegsdienst rekrutieren will. Die Unerbittlichkeit, mit der Podestà seinen Sohn Kerzendocht (Finn Wolfhard) drangsaliert und als Feigling demütigt, fügt dem Grund-Motiv schwieriger Vater-Sohn-Beziehungen eine weitere Facette hinzu.
Nach der Oktober-Premiere beim London Film Festival lief „Pinocchio“ in ausgewählten Kinos und ist seit dem Advent im Netflix-Angebot. Im Januar 2023 wurde er mit dem Golden Globe für den besten Animationsfilm ausgezeichnet, im März folgte der Oscar in derselben Kategorie.
Bild: Netflix