Auf den ersten Blick ist „Illusions perdues/Verlorene Illusionen“ nicht mehr als eine opulente, aber doch sehr museale Literatur-Verfilmung der gleichnamigen Roman-Trilogie von Honoré de Balzac. Recht betulich starten die 2,5 Stunden und auch der Erzählstrang über die Dreiecksgeschichte des aufstrebenden Schriftstellers Lucien de Rubempré (Benjamin Voisin) zwischen seiner ehemaligen Gönnerin Louise de Bargeton (Cécile de France) und der neuen Liebe zur Boulevardschauspielerin Coralie (Salomé Dewaels) ist etwas zu melodramatisch ausgewalzt.
Dennoch gibt es einige Aspekte, die diesen überlangen Film sehenswert machen, der in Frankreich mit 7 Césars (darunter für den besten Film) und 15 Nominierungen der Hit der Saison war: hier ist zuerst der ironische Off-Kommentar zu nennen. Der Frankokanadier Xavier Dolan, der seine größten Erfolge als Regisseur feierte, spielt Raoul Nathan, den Xavier Giannoli und sein Drehbuch-Co-Autor Jaques Fieschi aus zwei Roman-Figuren entwickelt haben. Er führt mit seinen kleinen Abschweifungen, Einordnungen und schönen Bonmots durch die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Hauptfigur.
Der zweite Grund, warum sich „Verlorene Illusionen“ lohnt, ist der genaue Blick, mit dem Balzac die Mechanismen des Zeitungsmarkts beschrieb. In geschliffenen Dialogen machen Lucien, dem nordfranzösichen Landei, seine Gesprächspartner deutlich, wie die Pariser Medien- und Meinungsblase funktioniert. Wer sein Stück oder eine neue Schauspielerin durchsetzen möchte, gibt eine Gefälligkeits-Rezension in Auftrag oder bestellt Claquere, die sich im Saal verteilen. Aber auch ein Verriss zur rechten Zeit in einer Konkurrenz-Zeitung kann das Geschäft beleben, denn nichts steigert die Neugier des Publikums so sehr wie eine giftige Kontroverse. Den Zynismus der Branche serviert Etienne Lousteau (Vincent Lacoste, César für den besten Nebendarsteller) mit dem spöttischsten Grinsen und treffendsten Pointen. Manche Beobachtungen dieses Films sind auch ohne weiteres auf die Welt der Influencerinnen und Starlets der Social Media-Gegenwart übertragbar.
Schnell lernt Lucien die Regeln des Spiels, jongliert mit den Angeboten, laviert geschickt zwischen den Fronten. Doch so rasch wie er aufstieg, so schnell wendet sich das Blatt und wird er Opfer derselben Mechanismen, die auch er einsetzte.
Lohnend ist auch das bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzte Ensemble: Jeanne Balibar spielt die intrigante Marquise d’Espard und Gérard Depardieu mimt den analphabetischen Verleger Dauriat, um nur zwei weitere große Namen des französischen Kinos zu nennen.
Erst mehr als ein Jahr nach der Premiere im Wettbewerb von Venedig 2001 kam „Verlorene Illusionen“ pünktlich zu Weihnachten auch auf den deutschen Kinomarkt.
Bild: Cinemien