Nora/Die Freiheit einer Frau

Beide Hauptfiguren, die Felicitas Brucker in ihrem feministischen Doppelabend zur Spielzeit-Eröffnung an den Münchner Kammerspielen zusammenspannte, brechen aus ihren unglücklichen Ehen aus. Die Konstellationen unterscheiden sich jedoch deutlich: Ibsens „Nora“ ist ein verwöhntes Luxus-Girlie (herrlich unsympathisch von Katharina Bach gespielt), das den Absturz fürchtet. Monique Bellequelle, die Mutter des Jungstars der französischen Intellektuellen-Szene, kämpft sich aus prekären Verhältnissen empor. „Die Freiheit einer Frau“ schildert, wie die ganze Familie unter den Gewaltausbrüchen eines Hilfsarbeiters leidet.

Der erste, längere Teil widmet sich dem Klassiker, doch bricht gleich mit den Seherwartungen. Sivan Ben Yishai, eine der begabtesten und gefragtesten Dramatikerinnen der Gegenwart, hat einen kleinen, von Tobias Herzberg übersetzten Prolog geschrieben, in der sie eine Leseprobe karikiert und die Schauspieler*innen übereinander herfallen lässt. Das ist eine ganz hübsche Fingerübung und prägt den Stil des Abends: Felicitas Bruckers „Nora“ stellt knapp zwei Stunden ihr Ringen um die Suche nach dem richtigen Ton aus. Passagen, in denen der Kanon-Klassiker recht originalgetreu gespielt wird, wechseln sich mit Szenen ab, in denen die Spieler*innen aus ihren Rollen treten. Einschübe von Gerhild Steinbuch und Ivna Žic sorgen für kleine Perspektivverschiebungen. Als Dr. Rank legt Vincent Redetzki ein Solo im Negligée hin, bei dem ihn Torvald Helmer (Edmund Telgenkämper) mehrmals vergeblich brüllend von der Bühne zu werfen versucht.

Diese Nora-Inszenierung testet vieles aus, spielt manche Motive an, bleibt aber doch sehr plakativ: Viva Schudts Bühne ist eine schiefe Ebene, auf der die Figuren ihren tragischen Verstrickungen entgegen taumeln.

Ganz anders ist der zweite, nur eine knappe Stunde kurze Teil: vorne an der Rampe teilen sich Katharina Bach, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper den essayistischen Text von Louis, der sich an seine unglückliche Kindheit, die häufigen Demütigungen durch den Vater und die späte Selbstbefreiung der Mutter erinnert. Den im Herbst 2021 erschienen, schmalen Text hat Falk Richter bei der Hamburger Uraufführung im März als queeres Emanzipations-Pop-Musical angelegt. Brucker entscheidet sich für das Gegenteil: minimalistisch bleibt dieser zweite Teil, ganz auf den Text konzentriert, mal leise räsonierend, sich mal dialogisch voran tastend, mal mit unvermittelten Brüllorgien und Gewaltausbrüchen, bei denen viele an die Wand geschleuderte Flaschen zu Bruch gehen.

In seiner sehr konzentrierten Form wird Bruckers „Die Freiheit einer Frau“ dem fragend-suchenden Ton der Louis-Vorlage gerecht. Was anfangs wie ein Nachklapp wirkt, entwickelt sich zum stärkeren Teil einer Doppel-Inszenierung, die nach der Premiere im Repertoire-Betrieb meist an getrennten Abenden gespielt werden.

Überraschenderweise entschied sich die Theatertreffen-Jury, den schwächeren „Nora“-Teil in die 10er Auswahl des Theatertreffens 2022 einzuladen.

Bilder: Armin Smailovic

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