Wie ein klassischer Kostüm- und Historienfilm beginnt „Unrueh/Unruh“, der zweite Film des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin, mit flanierenden, parlierenden Damen. Doch er bricht schnell mit den Sehgewohnheiten und Konventionen des Genres.

Mit demonstrativer Entschleunigung schildert der Film das Aufeinandertreffen von zwei Gesellschaftsauffassungen, die im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung an Fahrt aufnahm, miteinander rangen. Hier das liberale Effizienzdenken der Firmenchefs, die über Exportchancen ihrer Uhren räsonieren und mit solchem Elan noch die winzigste Optimierung der Betriebsabläufe austüfteln, dass es den McKinsey-Beraterinnen die Freudentränen in die Augen treiben würde. Dort die jungen Arbeiterinnen, die angesteckt von den Ideen der Pariser Kommune, von Selbstverwaltung und Anarchie träumen. Mit kleinen Nadelstichen versuchen die Arbeiterinnen, das Akkord-Tempo herunterzufahren. Bei der Gemeindewahl stimmen sie sehr geschlossen gegen den Kandidaten der Bourgeoisie und beschließen, einen Teil ihres Lohns für den Arbeitskampf einer befreundeten Bewegung in Baltimore zu spenden.

Genauso unaufgeregt und beiläufig wie das Engagement der Frauen erzählt „Unruh“ auch von den Gegenmaßnahmen der Fabrikbesitzer, die Aktivistinnen rauswerfen. Stets nur am Rand ist der russische Greograph, Schriftsteller und Philosoph Pjotr Kropotkin: ein Zitat ist dem Film vorangestellt und er war tatsächlich 1872 auf einer Reise in der Schweiz, wo ihn die anarchistischen Initiativen und Strukturen im Jura tief beeindruckten. In einer der skurrilsten Szenen des Films muss er sich entscheiden, welche der vier im Dorf geltenden Zeitzonen er für den Stempel auf seinem Telegramm nutzen möchte.

In seiner sperrigen, die üblchen Dramatugie-Konventionen verweigernden Konventionen ist „Unruh“ ein typischer Vertreter der Berlinale-Sektion Encounters, der Heimat von avantgardistischeren Experimenten und Nischen-Produktionen. Im vergangenen Jahr wurde „Unruh“ dort mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Mit diesem Rückenwind tourte der Film über internationale Festivals wie London, New York, Peking (beste Kamera), San Sebastian, Toronto oder Wien (FIPRESCI-Preis) und startete am 5. Januar 2023 in einigen Programmkinos.

Bilder: Grandfilm Verleih

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert