Die Möwe

Zwei Kraftzentren hat Thomas Ostermeiers fast dreistündige Tschechow-Annäherung „Die Möwe“: erstens die ausladende Platane, die Stamm-Bühnenbildner Jan Pappelbaum, aufgebaut hat. Sie überwölbt mit ihren Ästen und Blättern auch die ersten Reihen, die im Halbkreis um die Spielfläche angeordnet wurden, und eignet sich auch als Kletter- und Abenteuerspielplatz für das Ensemble. Natürlich ist dieses eindrucksvolle Baum-Imitat eine Reminiszenz an die Geschichte des Hauses, als Peter Stein seine „Drei Schwestern“ 1984 noch vor echten Birken leiden und seufzen ließ.

Zweitens prägt Joachim Meyerhoff diesen Abend. Zwischen all den überzeichneten Karikaturen ist sein Trigorin die einzig ernstzunehmende Figur, die von Tschechows Vorlage übrigblieb. Es ist wunderbar mitanzusehen, wie er mit Halbglatze und nerdigem Nickelbrillen-Look vor sich hin mansplaint und das Charakterbild des Schriftstellers voller Welt- und Selbstekel entwirft. Der verdiente Lohn ist seine Wahl zum Schauspieler des Jahres.

In diesem Mittelteil findet die fast dreistündigen Inszenierung für kurze Zeit zu sich. Davor und danach schlingert sie unsicher vor sich hin. Von verschiedenen Arten der Liebe zu erzählen, war Ostermeiers Plan. Im Programmheft sind dazu einige schöne Texte von Eva Ilouz und Co. versammelt. Doch auf der Bühne ist davon wenig zu merken: über weite Strecken erleben wir nur stark überzeichnete Karikaturen, die sich irgendwo zwischen „Klamotte“ (Rüdiger Schaper im Tagesspiegel) und „Boulevardkomödie“ (Christine Dössel in der SZ) abkämpfen. Abziehbilder sind Stephanie Eidts Blondinen-Starlet-Klischee Arkadina und Laurenz Laufenberg als ihr unverstandener Künstler-Sohn Kostjas, der das Scheitern eines Möchtegern-Dramatikers in Feinstrumpfhose als Lachnummer vorführt.

Die Comedy wurde vom Publikum dankbar und amüsiert aufgenommen, trat aber im letzten Drittel mehr und mehr in den Hintergrund: Kostjas Suizid, den die Schaubühne mit einer Triggerwarnung ankündigte, kommt als Schlusspunkt eines langen Abends, der sichtlich um die richtige Tonlage rang und zu oft daneben lag, was zum Teil wohl auch daran lag, dass die Proben von Corona-Fällen überschattet waren und die Premiere um mehrere Tage verschoben werden musste.

Ein Rätsel bleibt, warum vier der fünf großen Häuser in dieser Spielzeit einen Tschechow-Klassiker inszenierten: keine der Inszenierungen überzeugte, meist blieben die Bearbeitungen ähnlich in Karikaturen stecken wie dieser Schaubühnen-Abend.

Bilder: Gianmarco Bresadola

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