Radar Ost 2023

Zum fünften und leider letzten Mal lädt das Deutsche Theater Berlin in dieser Woche zu „Radar Ost“ ein. Als der im Sommer ausscheidende Intendant Ulrich Khuon und Festival-Kuratorin Birgit Lengers, die ans Schauspielhaus Düsseldorf wechselte, aber diese Ausgabe noch betreut, diesen Austausch mit Künstler/innen aus Osteuropa begannen, war diese Region tatsächlich ein blinder Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung.

Das hat sich bekanntlich dramatisch geändert, seit einem Jahr ist Putins Angriff auf die Ukraine das zentrale Thema auf der politischen Agenda, die Auswirkungen sind auch im Alltag deutlich zu spüren. Wie verengt der westliche Blick auf diesen Krieg ist, machte auch gleich einer der Spieler der Eröffnungs-Produktion „Ha*l*t“ deutlich, die das DT Berlin gemeinsam mit dem Left Bank Theatre, Kiew, produzierte. Was wir seit dem 24.2.2022 erleben, ist in Wahrheit die dritte Phase eines Krieges, der 2014 begann und lange eingefroren schien, so dass er die westliche Öffentlichkeit nicht weiter interessierte. Bei der vorherigen Festival-Ausgabe im Oktober 2021 schilderte das Left Bank Theatre-Gastspiel „Bad Roads“ die Lage in Donezk im Osten der Ukraine.

Der Eröffnungs-Abend ist eine Suchbewegung: das Team um Regisseurin und Co-Theaterleiterin Tamara Trunova fragt sich, ob und wie man nach den Bomben auf ihre Stadt weiter Theater machen. Im humorvollen Intro stellen sie ein Publikumsgespräch zur „Hamlet“-Vorstellung nach, die im Frühjahr 2022 Premiere feiern sollte. Das Plakat des Hauptdarstellers (Oleksandr Sokolov) hing schon am Eingang, die Proben hatten begonnen. In der Eröffnungsszene tut das Kiewer Ensemble so, als sei alles seinen gewohnten Gang gegangen: die Schauspielerinnen der doppelten Gertrud belauern sich mit Eifersüchteleien und auch sonst wirkt alles wie Betriebs-Routine.

In den restlichen zwei Stunden nimmt „Ha*l*t“ immer wieder Anlauf, die zentrale Frage zu beantworten, wie es nun für die Künstler*innen weitergehen kann. Der Fortinbras-Darsteller, der vermeintlich noch in der Raucherpause ist, wird in einem Frontkämpfer-Video eingespielt. Für Oleh Stefan, den Ältesten in der Runde, ist die Sache klar: sie müssen weiterarbeiten, ihre künstlerischen Stimmen müssen jetzt erst gehört werden. Deshalb betont er auch immer wieder, wie dankbar er ist, dass er schon im September 2022 an Thomas Ostermeiers Schaubühne am Dokutheater-Projekt „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ mitarbeiten durfte, das ebenfalls auf die ausgefallene Hamlet-Inszenierung Bezug nahm.

Die Reflexion über Kunst in Zeiten des Krieges, die auf Ukrainisch mit deutschen und englischen Übertiteln an zwei Abenden in den DT-Kammerspielen gezeigt wird, stellt ihren suchenden Charakter ganz offensiv aus. Stilmittel werden ausprobiert und verworfen, Wege beschritten, die sich als Sackgassen herausstellen, die Ebenen zwischen ausgefallener Produktion und Meta-Diskurs immer wieder gewechselt. Ein in sich geschlossener Abend entsteht daraus natürlich nicht, die Fragen und Zweifel stehen im Mittelpunkt.

Mit dem Worst Case-Szenario, zu dem Putins Angriff auf die Ukraine führen könnte, befasst sich „Dogs of Europe“ nach dem mittlerweile in Belarus Roman verbotenen Roman von Alhierd Bacharevič: Diese Dystopie beschreibt ein russisches Imperium, das sich neben der Ukraine auch Belarus, die Mongolei, Korea und Finnland einverleibt hat. An der Westgrenze zu Polen teilt eine neue Mauer den Kontinent, die EU ist in sich zerstritten und auseinandergebrochen, besteht 2049 nur noch als loser Völkerbund. In diesem tiefschwarzen Szenario droht dem europäischen Kontinent ein Verfall der Kultur, brennende Bücher flackern auf der Bühne.

Foto: Linda Nylind

In einem Mix aus Fantasy und Politthriller springt das 16köpfige Ensemble des Belarus Free Theatre zwischen den Zeiten und Orten hin und her. Die Compagnie agierte nach dem Verbot in Belarus zunächst im Untergrund und lebt mittlerweile im Exil, die aktuelle Produktion kam vor einem Jahr im Barbican Centre/London heraus. „Dogs of Europe“ ist ein dreistündiger Abend, der vor Theatermitteln geradezu überbordet. Von Volkstanz bis Rap, von Live-Video bis Slapstick fährt die Gruppe in schnellem Tempo vieles auf und springt zwischen den Handlungsebenen. Dementsprechend schwer ist es trotz Übertiteln, dem Plot zu folgen.

Etwas Komik und Leichtigkeit brachte das Royal District Theatre aus Tiflis, das dem Radar Ost-Festival seit der ersten Ausgabe 2018 verbunden ist, mit nach Berlin. Auch dass das Bühnenbild im Zoll hängen blieb, konnte das Ensemble nicht beirren. „Medea s01 e06“ ist ähnlich wie Christa Wolfs Roman „Medea. Stimmen“ als Collage mehrerer Stimmen angelegt, die über die Prinzessin und Kindsmörderin sprechen. Während die Titelfigur (gespielt von Ekaterine Demetradze) oft stumm bleibt, nimmt sich ihr Bruder Absyrtus (Sandro Samkharadze in leuchtendem Rot) um so mehr Raum. Er zieht über sie her, führt sie vor und mischt sich auch immer wieder mit frechen Sprüchen ins Publikum.

Bild: Juda Khatia Psuturi

Rätselhaft bleibt die Rolle der stummen Tänzerinnen, die Medea und ihre Gegner auf der notgedrungen leeren Bühne umkreisen. Leider gab es nur am zweiten Gastspiel-Abend eine Einführung. Der Kontext, aus dem die Georgier ihre Medea-Version erzählen, erschließt sich erst, wenn man Hintergrundtexte wie z.B. Esther Slevogts Nachtkritik-Reportage über eine Tiflis-Reise im Herbst 2022 kennt: Paata Tsikolia und sein Team setzen der „Medea“-Rezeption in ihrer georgischen Heimat, die dort zum Beispiel mit einem 2007 am Hafen von Batumi als Symbol des Nationalstolzes gewürdigt wird, ihre Version des Mythos entgegen: „Die identitätsstiftende Funktion, die Medea für georgische Nationalisten und das aktuelle Selbstbild Georgiens hat, stört ihn schon lange“, berichtete Slevogt.

Unmissverständlich war hingegen der Schlussappell von Regisseur und Ensemble: unmittelbar vor der Abreise nach Berlin waren sie bei den Protesten gegen ein Mediengesetz nach russischem Vorbild dabei. Sie berichteten von Tränengas-Einsätzen und appellierten an das Publikum, dass auch hier wie nach dem Angriff auf Kiew die westlichen Werte der EU gegen autokratisches Herrschaftsstreben verteidigt werden müssen.

Dieser Krieg in der Ukraine war auch das Thema der Abschluss-Produktion „Danse Macabre“ der Dakh Daughters, die ebenfalls schon bei früheren Festival-Ausgaben zu Gast waren. Ihr Klagegesang beginnt gewohnt punkig, wird dann aber zur Totenmesse für die Opfer von Vergewaltigung und Krieg. In dieser 2022 im französischen Exil entstandenen Arbeit, die vor wenigen Wochen bereits in Hamburg zu sehen war, irren die Musikerinnen und Schauspielerinnen mit Rollkoffern zwischen Grablichtern umher und erzählen von ihrem Schmerz über Flucht und Verlust von Angehörigen.

Vorschau-Bild aus „Ha*l*t“: Arno Declair

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert