Kindheitsarchive

Straubtrocken sind Dokutheater-Abende häufig. Einen anderen Weg geht die Pariser Regisseurin Caroline Guiela Nguyen: auch sie recherchiert ausgiebig und destilliert daraus prototypische Geschichten in einem naturalistischen Setting. In ihrem aktuellen Stück „Kindheitsarchive“, das sie nach mehreren FIND-Gastspielen mit dem Ensemble der Schaubühne entwickelt hat, geht es beispielsweise um Auslandsadoptionen. Alice Duchange hat dafür ein typisches Büro-Setting mit langem Konferenztisch in den Saal B der Schaubühne gestellt, an dem die drei Sachbearbeiterinnen (Bachfischer, İlknur Bahadır, Alina Vimbai Strähler) adoptionswillige Paare oder Menschen wie Nina/Elena (Irina Usova), die nach ihrer Herkunft forschen wollen, beraten.

Das Ungewöhnliche an diesem Dokutheater ist, dass es als sozialrealistisches Melodram eine Nische besetzt, die in Deutschland nur selten zu sehen ist, an der Schaubühne aber beispielsweise auch vom Briten Alexander Zeldin mit „Beyond Caring“ gepflegt wird. Fast permanent wird der zweistündige Abend von sanfter Lounge-Musik untermalt. Bei aller Wissensvermittlung über die Klippen einer Auslandsadaption, die in den prototypischen Fallkonstellationen vorgestellt werden, zwischen denen die Inszenierung pendelt, zielt „Kindheitsarchive“ auch immer wieder sehr direkt auf die Gefühle der Zuschauer*innen und die Tränendrüse. Mit dem kleinen vietnamesischen Jungen (in der Rolle wechseln sich drei Kinderdarsteller ab), den die alleinerziehende Businessfrau (Ruth Rosenfeld) adoptierte, der sich nach seinem Teddy und seiner Heimat sehnt, endet der Abend. Auch das letzte Drittel davor ist sehr emotional: im Zoom-Call sieht sich Nina/Elena plötzlich nicht nur ihrem Bruder in Moskau, den sie nie zuvor gesehen hat, sondern auch noch seiner Frau und dem gemeinsamen Baby sowie ihrer leiblichen Mutter gegenüber. In solchen Momenten, die Usova schwankend zwischen teenagerhafter Begeisterung und Angst vor emotionaler Überforderung spielt, droht Nguyen zu überziehen.

Insgesamt bleibt der Abend trotz aller Emotionalität glücklicherweise doch eher Kammerspiel als Soap, da die drei Frauen vom Amt in ihrer einfühlsamen, aber doch toughen Art in jeder der Teil-Episoden das Heft das Handelns behalten und die Verzweiflungsausbrüche á la „Das können Sie uns doch nicht antun!“ an der professionellen Schutzschicht abprallen lassen. Im Zentrum dieses sozialdramatischen Melodrams steht eben doch die Wissensvermittlung.

Für das ungewohnte Genre interessierte sie sich auch die tt-Jury. Sie nahm es auf ihre Shortlist, in der Schluss-Diskussion schaffte es „Kindheitsarchive“ aber doch nicht in die 10er-Auswahl der aktuellen Festival-Ausgabe 2023. Irina Usova wurde für ihr Schaubühnen-Gastspiel zu einer der Nachwuchsspielerinnen der Saison gekürt.

Bild: Gianmarco Bresadola

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