Im Menschen muss alles herrlich sein

Vertrauter Gorki Theater-Sound diesmal einige hundert Meter weiter westlich im DT: beim ATT-Uraufführungsfestival gastierten zwei langjährige Weggefährt*innen von Gorki-Intendantin Shermin Langhoff. Regisseur Hakan Savaş Mican arbeitete schon mit ihr am Ballhaus Naunynstraße und ist mit seinen muikalisch-melancholischen Familienaufstellungen seit 2013 eine tragende Säule im Repertoire. Auch Sasha Mariana Salzmann, nonbinäre Schriftsteller*in, ist dem Berliner Publikum bestens bekannt. Mehrere Stücke und auch ihr erster Roman „Außer sich“ wurden dort uraufgeführt.

Salzmanns zweiter Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ war ein Hit des Bücherherbsts 2021: er wurde mit dem Hermann Hesse-Preis und dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet, stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste und schaffte es wie der Vorgänger auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis. Die Uraufführung sicherte sich diesmal das Hamburger Thalia Theater, wo Mican auch schon seit einigen Jahren inszeniert.

Die Roman-Adaption, die nicht auf der großen Bühne, sondern in der kleineren Spielstätte in der Altonaer Gaußstraße Premiere hatte, sah sich mit einer dramatisch veränderten Weltlage konfrontiert. Salzmanns Buch stammt aus einer Zeit, als der Horizont westlicher Gesellschaften noch in der Uckermark endete, wie DT-Chefdramaturg Claus Caesar flapsig-treffend ins Nachgespräch einführte. Die eigene Identitätssuche von Salzmann und Interviews mit den Frauen aus der Familie, die aus der untergegangen Sowjetunion nach Deutschland auswanderten, sind die Grundlage für diesen fiktionalen Roman.

Das Thalia-Team stand vor der Aufgabe, wie man auf den 24. Februar 2022 reagieren soll: Genau zwischen Erscheinen des Buchs und der Premiere der Stückfassung eskalierte Wladimir Putin mit dem Angriff auf Kiew den seit Jahren schwelenden Krieg. Nach Phase 1 mit den Kämpfen im Donbass seit 2014, die in den Nachrichten ebenso nur als Hintergrundrauschen präsent war wie im Roman mit der Figur des fliehenden Großvaters, rückte die Ukraine plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit.

Im Nachgespräch mit dem kompletten Ensemble und der Dramaturgin erfuhren wir, dass sich das Team dagegen entschied, auf die aktuelleren Entwicklungen einzugehen. Die Stückfassung endet wie der Roman 2017. Konflikte gab es zwischen der deutsch-ukrainischen Live-Musikerin Masha Kashyna und dem Regisseur auszufechten: sie pochte darauf, dass als Songs, die in Mican-Arbeiten immer eine wesentliche Rolle spielen und die Atmosphäre seiner karg ausgestatteten Abende entscheidend prägen, nicht nur nostalgische, russische Lieder aus Sowjetzeiten, sondern auch ukrainische Lieder ausgewählt werden.

Wegen dieser Einblicke in die Produktionsweise war das Nachgespräch ein Gewinn, die zwei Stunden davor blieben eine konventionelle Adaption, der man deutlich anmerkte, dass es sich um eine Roman-Vorlage handelt, die nicht für die Bühne geschrieben war. Das zentrale Thema von „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, zwischen Müttern und Töchtern. Zu ihrem 50. Geburtstag möchte Lena (Oda Thormeyer) ihre Tochter Edi (Toini Ruhnke), ihre langjährige Freundin Tatjana (Oana Solomon) und deren Tochter Nina (Pauline Rénevier) um sich scharen, die Männer (alle von Stefan Stern gespielt) sind nur Nebenfiguren in diesem Erinnerungskosmos.

Wie von Mican gewohnt entfaltet sich die melodramatische Familien-Erinnerungssaga mit viel Live-Musik und eingespielten Videos, die lange Fahrten über triste Autobahnen und Stopps an Raststätten zeigen. Ebenfalls kennt man von ihm, dass seine Inszenierungen oft unangenehm verqualmt sind. Das Figurengeflecht blendet aus der jüngeren Vergangenheit 2017 in die Erinnerungswelt der 1970er und der Perestroika-Zeit der späten 1980er Jahre zurück, die von Salzmann als „Fleischwolfzeit“ bezeichnet und von den Müttern als Verlust fester Bindungen und Gewissheiten erlebt wurde. „Von der Vergangenheit besessen zu sein, ist nicht gesund“, meint Tatjana (Oana Solomon) einmal, „Eine zu haben, wäre schön“, antwortet Edi (Toini Ruhnke): Dies ist der Kern-Dialog des Diaspora-Erinnerungsabends.

Bild: Krafft Angerer

 

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