Bauchgefühl

Bemerkenswert ist diese Stückentwicklung allein schon, weil der Kooperation des Theater Thikwa mit dem feministischem Freie Szene-Kollektiv hannsjana etwas gelingt, was sich jedes Inklusionsprojekt vornimmt, aber nur selten erreicht. Zu oft sind behinderte Spieler*innen nur dekoratives Anhängsel oder mit gewaltigen Textmassen überfordert. In „Bauchgefühl“ stehen behinderte und nichtbehinderte Spielerinnen hier gleichberechtigt nebeneinander und berichten über ihre eigenen Erfahrungen. Daraus entsteht ein Mosaik aus ganz verschiedenen Perspektiven rund um die Themen Schwangerschaft und Abtreibung. Dramaturgisch ist der 80 Minuten kurze Abend so geschickt gebaut, dass die Spielerinnen wie ein organisches Ganzes wirken und keine Sichtweise dominiert: Mal werden einzelne Erfahrungen aus der Ich-Perspektive klar markiert, mal bleiben sie anonym, wenn mit einem von She She Pop mehrfach verwendeten Kunstgriff davon die Rede ist, dass „eine/einige von uns…“ dies oder jenes erlebt haben.

Unter den Performances der Freien Szene und des Stadttheaters ragt diese dritte Zusammenarbeit von Theater Thikwa und hansjanna aber auch heraus, da sie noch etwas anderes schaffen, was auch sehr viele versuchen und selten einlösen. Der Abend ist ebenso unterhaltsam wie lehrreich: Infotainment der besten Sorte. Zum Gelingen des Abends trägt entscheidend bei, dass das Ensemble mit ironischen Zustimmungen und Brechungen arbeitet. Einzelne aus dem Publikum werden genauso von oben herab angeredet, wie die Gesellschaft oft mit Menschen mit Behinderungen oder kleinen Kindern umgeht. Ein kleines Highlight dieses Abends voller gelungener Perspektivverschiebungen ist zum Beispiel die Videosequenz, in der junge Eltern ihr Unverständnis beklagen, wie sich Kolleginnen, seit sie am Theater arbeiten, keine anderen Themen mehr haben und sich völlig vereinnahmen lassen.

Gemeinsam ist allen Spielerinnen des Abends, dass sie keine Kinder haben: oft aus freier Entscheidung, manchmal aber auch wegen äußerer Zwänge. Die Thikwa-Spielerinnen berichten, dass Frauen aus den inklusiven Wohnprojekten ausziehen müssen, wenn sie sich für eine Schwangerschaft entscheiden. Zwischen all den lustigen Momenten und schönen Popsongs, die in den leichtfüßigen Abend eingeflochten sind, sorgen sie für die stillen, manchmal regelrecht beklemmenden Momente, wenn sie an Zwangssterilisationen der NS-Zeit, das Nachwirken bestimmter Gesetze oder Ausnahmen vom § 218 für Föten mit schwerer Behinderung erinnern.

Trotz all der Themen und Perspektiven, die in nur 80 Minuten verhandelt werden, ist „Bauchgefühl“ ein erstaunlich runder Abend. Nach der Premiere am 30. August 2023 gab es fünf weitere Vorstellungen innerhalb einer Woche. Eine Wiederaufnahme ist im November geplant (1./2./3./4./7./8.11., jeweils 20 Uhr)

Das einzig Negative, was ich über diesen Abend sagen kann, ist die Ansammlung toxischer, prolliger Weiblichkeit im Publikum, wie sie ebenfalls selten zu erleben ist. Mit einer Rücksichtslosigkeit und Lautstärke donnerten, polterten und traten diese Störerinnen (wegen Faktenlage bewusst ungegendert) gegen die Stühle der Vorderreihen, dass es auf die Dauer sehr nervte und schon eine besonders dumpfe Form der Gedankenlosigkeit ist, seine Mitzuschauer*innen so zu stören. Seltsam, dass sich solche Exemplare ausgerechnet an einem Abend tummeln, bei dem Empathie im Zentrum steht. Das Theater Thikwa hat versichert, dass sie derartige Störungen bisher nicht erlebt haben. Hoffen wir, dass dies ein unglücklicher Einzelfall war und bleibt!

Bild: Mayra Wallraff

 

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