In drei völlig unterschiedliche Teile fällt die zweite Volksbühnen-Regiearbeit von Julien Gosselin auseinander. Den Auftakt macht eine 40minütige Techno-Party, die man wahlweise vorne am Pult der beiden DJs mit Freibier oder auf den Publikumsrängen verbringen kann. Aber auch im Foyer bekommt man das laute Wummern trotz Ohrstöpsel noch mit, trifft viel Theaterprominenz und kann rechtzeitig zurück in den Saal, bevor ein Video-Einspieler mit Rosa Lembeck, die dringend in Wolfsegg anrufen soll, die erste Pause einläutet. Zu dem frühen Zeitpunkt wirkt das noch rätselhaft, rückblickend ist es ein erster Teaser für das Finale des Abends.
Doch dazwischen liegt ein mit 2,5 Stunden quälend langer Live-Theater-Film, der in Schwarz-Weiß-Bildern auf die große Leinwand projiziert und mit Untertiteln versehen wird, während unten das bilinguale Ensemble (aus Spieler*innen von Gosselins französischer Compagnie „Si vous pouviez lécher mon cœur“, die er 2009 gründete, Volksbühnen-Ensemble-Mitgliedern und dem hauseigenen P14-Nachwuchs) von der Live-Kamera verfolgt über die Hinterbühne wuselt. Mehrere Texte von Arthur Schnitzler (z.B. „Fräulein Else“ und „Traumnovelle“) werden mit dem Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal verschnitten, den Marie Rosa Tietjen in einem grotesken Solo als Parodie (oder etwa doch ernstgemeint?) auf Freie Szene-Avantgarde-Projekte performt. Es wird geschmachtet, endlos parliert und dem Untergang des 1. Weltkriegs entgegentaumelt. Die Texte sind nicht mehr so geschickt verzahnt wie in Gosselins Volksbühnen-Debüt „Sturm und Drang“, die Motive sind nur angerissen und erschöpfen sich in melodramatischem Weltuntergangs-Einheitsbrei. Allzu plakativ geht die elegisch vor sich hindämmernde Salongesellschaft mit lautem Donnerknall zu Grunde, in einer kurzen Einlage vor der zweiten Pause geht ein Schuhplattler-Tanz in eine Splatter-Orgie über. Das haben viele Gäste der Berliner Premiere (davor lief das Stück schon in Montpellier, bei den Wiener Festwochen und in Avignon) nicht mehr miterlebt, da die zähe Live-Film-Produktion von häufigem Türenklappern begleitet wurde.
Nach der zweiten Pause gehört die leere Bühne Rosa Lembeck: sie sitzt allein auf einem Stuhl und trägt Auszüge aus Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“ vor. Die Vorlage wird leicht adaptiert: aus Bernhards männlichem Alter ego wird eine junge Frau, die nach dem Tod ihrer Eltern aus der Freiheit Roms in die beklemmende Enge von Wolfsegg zurückgerufen wird. Diesen langen, knapp einstündigen Schlussmonolog würde man eher auf die Studiobühne im 3. Stock als ins Große Haus vermuten, am besten lässt er sich auf einem der 50 Plastikstühle verfolgen, die auf die Bühne gestellt wurden. Ungewöhnlich ist auch der weinerliche Tonfall, der nicht recht zu Bernhards Wut-Suada passt, in der er über Österreich, alte und neue Nazis, den Katholizismus und die Eltern-Generation ätzt.
Kurz vor Mitternacht endet diese enttäuschende Spielzeiteröffnung am Rosa Luxemburg-Platz, die fast schon Castorfsche Länge erreichte, aber sich zu keinem überzeugenden Ganzen zusammenfügt.
Wegen seiner ungewöhnlichen Struktur war „Extinction“ ein Kandidat für die Shortlist des Theatertreffens, war aber doch zu schwach für die 10er Auswahl.
Bild: Luna Zscharnt