Museum of uncounted voices

Provokativ steigt Marina Daviydova, eine der prominentesten russischen Theaterfrauen, in ihren Abend „Museum of uncounted voices“, ihre erste Arbeit im Exil, ein. Aus dem Off beschallt uns Odin Biron, bekannt aus mehreren Inszenierungen von Kirill Serebrennikow, mit sonorer Stimme mit chauvinistischer russischer Propaganda, wie sie Putins Propagandaabteilung nicht besser verpacken könnten. In seinem faktenreichen historischen Abriss stellt er das russische Zarenreich als zivilisatorischen Heilsbringer für die benachbarten Völker dar, die sich unter dem schützenden Mantel wärmen. Mit Kolonialismus und Imperialismus westlicher Staaten habe das nichts zu tun, versichert.

In den folgenden Kapiteln treten neue Stimmen und Perspektiven hinzu: Belarus, Ukraine, Georgien, Aserbaidschan und Armenien stellen ihre historischen Narrative vor. Das Publikum wird mit einem ganzen Arsenal von Namen, Fakten und Daten konfrontiert, bis die Köpfe schwirren. Wir sind eingeladen, zwischen den Stuhlreihen und der Bühne hin und her zu wechseln. Wie im Museum sind dort in Vitrinen die Insignien der konkurrierenden Herrscherhäuser ausgestellt, die unterschiedlichen Landkarten mit den jeweils maximalen Ausdehnungen der Territorien, auf die sich die Stimmen aus dem Off (Englisch mit der Option deutscher Simultan-Kopfhörer-Übersetzung) berufen, werden penibel projiziert.

Statt des angekündigten Parcours bleibt die Installation immer im selben Raum. Dennoch wird der Abend langsam vielfältiger. Der historische Frontal-Unterricht, der viele im Publikum gegen Ende der ersten Stunde zusehends erschöpft, wird zum hitzigen Streitgespräch der National-Vertreter. Belarus wirft der Ukraine vor, dass das Interesse des Westens sich seit 2022 ganz auf den Angriffskrieg konzentriere und die Oppositionsbewegung von Minsk fast vergessen sei. Aserbaidschan und Armenien bekommen sich wegen Berg-Karabach in die Haare. Trotz aller Exkurse ins frühe Mittelalter weist der Geschichtsunterricht „Museum of uncounted voices“ natürlich höchst aktuelle Bezüge auf.

Bild: Nurith Wagner-Strauss

Der knapp zweistündige Abend endet mit einem sehr persönlichen Monolog, den diesmal Chulpan Khamatova, an manchen Abenden Marina Weis übernimmt. Sie sind Sprachrohr der Regisseurin Davydova, die ausführlich ihre schwierige Identitätsfindung in diesem Kosmos postsowjetischer Nationalismen und Konflikte schildert. Als Tochter eines Armeniers und einer Russin in Baku, der aserbaidschanischen Teilrepublik geboren, freute sie sich über die neuen Chancen nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft. Die ersehnten Freiräume wurden durch Chauvinismus und Bürgerkriege bedroht und eingeschränkt. Aus Moskau, wo sie sich eine erfolgreiche Karriere als Theaterkritikerin und Festivalleiterin aufbaute, musste sie als entschiedene Gegnerin von Putins Angriffskrieg ins Exil gehen. Dieses Leben zwischen den Stühlen schildert Davydova in einem Monolog, der all die gehörten Stimmen einbindet und den Abend abrundet. Glücklicherweise landete Davydova bei ihrer schwierigen Lebensreise im Gegendsatz zu vielen anderen auf einer sehr privilegierten Position: ab dem kommenden Jahr ist sie Schauspielchefin der Salzburger Festspiele.

Das HAU-Auftragswerk „Museum of uncounted Voices“ wurde bei den koproduzierenden Wiener Festwochen am 22. Mai 2023 uraufgeführt und ist in Berlin im HAU 2 von 27. September – 1. Oktober 2023 zu sehen.

Wegen seiner ungewöhnlichen Struktur war der Abend auch auf der Shortlist füt das Theatertreffen 2024, aber nicht interessant genug für die 10er Auswahl. Immerhin wurde er zum Impulse Festival der Freien Szene eingeladen.

Vorschaubild: Victoria Nazarova

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