Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun/ 6. Herbstsalon Lost You Go Slavia

Der zentrale Programmpunkt zur Eröffnung des 6. Gorki-Herbstsalons musste leider kurzfristig abgesagt werden. Oliver Frljić wollte sich auf der großen Bühne mit dem „Frankenstein“-Mythos auseinandersetzen, doch die Premiere wurde nach einem Trauerfall in der Familie des Regisseurs kurzfristig abgesagt und auf die 2. Spielzeithälfte verschoben.

Zu sehen und erleben gab es beim „Lost – You Go Slavia“-Festival-Auftakt dennoch einiges. Traditionell wird beim Herbstsalon Bildende Kunst in den Räumen des Gorki Theaters und angrenzenden Gebäuden gezeigt. Wegen des schrumpfenden Budgets ist diese Ausstellung, die bis 10. Dezember läuft, nicht mehr so umfangreich wie von früheren Ausgaben gewohnt und konzentriert sich auf zwei Künstlerinnen aus dem postjugoslawischen Raum. In diesem Jahr gab es erstmals einen zweigeteilten Herbstsalon: bereits im Juni widmete sich ein erster Teil des Festivals dem 10jährigen Jubiläum der Gezi-Proteste und der Präsidentschaftswahl in der Türkei.

In mehreren Videos dokumentiert die Zenica Trilogie von Danica Dakić die Situation in der ehemaligen Vorzeigestadt der Industrialisierung des sozialistischen Jugoslawien. Neben einem pfandsammelnden Dialyse-Patienten, der sich für bessere medizinische Versorgung einsetzt, steht das 1950 errichtete, vom „Totaltheater“ von Walter Gropius errichtete bosnische Nationaltheater im Zentrum dieses Zyklus, der sich über mehrere Räume in der oberen Etage erstreckt. Die Nam June Paik-Schülerin Dakić, die mittlerweile selbst eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf innehat, stellte diese Trilogie bereits 2019 bei der Venedig Biennale im Pavillon von Bosnien-Herzegowina und später im Bauhaus-Museum in Weimar aus.

Die größte Aufmerksamkeit bekommt sicher ihr Video „Vedo“: das Publikum wird auf dem Treppenaufgang zum Theatersaal direkt auf den Jungen zulaufen, der vor dem leeren Hauptbahnhof von Sarajewo ein Partisanenlied singt.

Dokumentarisch ist auch der Ansatz der zweiten Künstlerin, die im Kiosk ausstellt: Milica Tomić zeigt unter dem Titel Four Faces of Omarska ein Modell dieses Lagers aus den Prozessen des UN-Kriegsverbrechertribunals sowie Landkarten der Fluchtwege und Massaker-Orte.

Statt der Theaterpremiere wurde der Gorki-Saal gestern zum Kino umfunktioniert. Das Highlight der achtteiligen Filmreihe des Herbstsalon-Festivals ist sicher das beklemmende Drama Quo vadis, Aida? von Jasmila Žbanić, das 2020 im Venedig-Wettbewerb lief und 2021 drei Europäische Filmpreise gewann. Die bosnische Regisseurin schildert darin die Verzweiflung einer fiktiven Dolmetscherin, die auf dem Gelände der von niederländischen Blauhelmen bewachten UN-Schutzzone vergeblich versucht, ihre Familie vor dem Genozid in Sicherheit zu bringen. Quo vadis, Aida? lief in diesem Sommer auch schon auf arte und wird am Gorki am Samstag, 30. September, noch mal gezeigt. Im Anschluss wird die Regisseurin mit den beiden Bildenden Künstlerin und Selma Spahić diskutieren, von der in den nächsten Wochen Theatergastspiele zu sehen sein werden.

Eine kleine Theater-Performance gab es aber auch schon am Eröffnungsabend: Marina Frenk lud zu einer Doppelvorstellung von Eine Niere hat nichts mit Politik zu tun. Mit Zitaten gespickt befasst sie sich mit Terror, Justiz-Willkür, Folter und Gewalt. Sie verlässt dafür den postjugoslawischen Raum und befasst sich mit dem postsowjetischen Raum, wo sie 1986 in Chișinău, der Hauptstadt der damaligen sowjetischen Teilrepublik Moldawien, geboren ist.

Diese kleine Fingerübung ist mit 90 Minuten deutlich zu lang geraten. Frenk springt zwischen den Textschnipseln, Video-Installationen und Songs, die sie mit ihrer dreiköpfigen Live-Band The Disappointalists performt, hin und her. Zwischendurch setzt sie sich in einen winzigen Käfig, um die Haftbedingungen zu demonstrieren, oder stellt Fragen ans Publikum, das sie an diesem Premierenabend auflaufen ließ.

„Eine Niere hat doch nichts mit Politik zu tun“ spielt auf den Satz einer Gefängnis-Ärztin im Dialog mit einem Hungerstreikenden an und hat sich vorgenommen, die „gespenster des totaliautaripostkommupseudoeurasiismus“, so der Untertitel, auszuloten. Zwischen belesenen Zitaten von Dissidenten und Soziologen und manchen zu albernen Abschweifungen fehlt dieser Produktion noch der dramaturgische Schliff. Die Songs, die zwischen dissonantem Jazz und melancholischer Osteuropa-Folklore pendeln, und ein paar interessante Gedanken aus der Überfülle von Textschnipseln könnten einen sehr guten Grundstock für einen gelungeneren Abend bieten, wenn Frenk und ihr Team ihre Version überarbeiten würden.

Bild: © Ute Langkafel MAIFOTO

 

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