Chicago

Ein sehr schlechtes Zeugnis stellen Fred Ebb, Bob Fosse und John Kander der US-amerikanischen Gesellschaft in ihrem Musical „Chicago“ aus. Sie zeichnen das Bild einer zutiefst korrupten und oberflächlichen Gesellschaft, in der die Gier nach Ruhm und Boulevard-Schlagzeilen die entscheidende Triebfeder ist und statt rechtsstaatlicher Normen und präziser Beweisführung über den Erfolg vor Gericht entscheidet, ob man genug Geld hat, sich den manipulativen Rechtsanwalt (Jörn-Felix Alt) leisten zu können.

Diese bissige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ist tatsächlich erstaunlich nah an Bertolt Brecht/Kurt Weill und ihrer „Dreigroschenoper“, die ein paar Jahre später jenseits des Atlantiks uraufgeführt wurde. Wie Dramaturgin Johanna Wall im lesenswerten Programmbuch nachzeichnet, basiert das Musical auf realen Gerichtsprozessen, die Maurine Dallas Watkins, im Stück als Mary Sunshine als Karikatur einer sensationsgierigen Society-Reporterin präsent, für den Chicago Tribune beobachtete.

Der knapp dreistündige Abend ist im Stil des Vaudeville gebaut, Solo-Nummern ergänzen sich mit Tanz-Einlagen, die Otto Pichler gekonnt und so lasziv choreographiert, wie es sich der Friedrichstadt Palast erträumt. Er ist der bewährte Co-Regisseur von Barrie Kosky, der nach vielen Triumphen als Intendant der Komischen Oper die neue Interimsspielstätte im Schillertheater in seiner neuen Rolle als dem Haus weiterhin eng verbundener Regisseur eröffnete. Von den 6.500 blinkenden Glühlampen bis zu Victoria Behrs Kostümenund auch sonst wartet der Abend mit so viel Glitzer und Glamour auf, wie es der Name Kosky erwarten lässt.

Star des Abends ist natürlich Katharine Mehrling, die ihrer Roxie Hart die nötige Mischung aus Skrupellosigkeit und gespielter Naivität verleiht. Sie ist der Prototyp der Influencerinnen, die für mehr Klicks fast alles tun würden. Aber diese Zeitdiagnose muss die Barrie Kosky-Inszenierung gar nicht offen aussprechen, sie drängt sich ohnehin auf.

Kosky, Pichler und ihr langjähriger musikalischer Leite Adam Benzwi präsentieren die kapitalismuskritische Revue-Show mit gewohnt großer Opernhaus-Besetzung und souveräner Leichtigkeit, der man die harten Proben nicht anmerkt. Neben dem Tenor Jörn-Felix Alt in der Rolle des wunderbar schmierigen Winkeladvokaten Billy Flynn stellten sie Mehrlings Roxie ihre Rivalin Velma (Ruth Brauer-Kvam) und als lustige Side-Kicks Andreja Schneider (Geschwister Pfister) als korrupte Knast-Matriarchin Mama Morton und Ivan Turšić als leicht trotteligen Ehemann Ivan Turšić mit einigen Running-Gags zur Seite.

Nach der dritten Vorstellung und eine Woche nach der Premiere vom 28. Oktober 2023 lässt sich feststellen, dass Barrie Kosky der Komischen Oper auch weiter volles Haus und glamouröse Hits garantiert.

Bilder: Barbara Braun

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